Gesetzlos - Roman
Verirrung sogar beschlossen, einem virtuosen Gitarristen (einem gewissen Reginald Drarège, der Bachs
Sonaten und Partiten für Violine solo
für die Gitarre arrangiert hatte und solistisch spielte), dem Neffen eines Kollegen aus Garches, Clara lieber nicht vorzustellen, weil er ihn für verführerisch, allzu verführerisch hielt. Später hatte er dann doch noch für ein Treffen der beiden jungen Leute gesorgt, er war über sich selbst erstaunt und erschrocken gewesen. Sein Verhalten war ihm umso absonderlicher erschienen, als Clara ja gewiss eine Menge anderer verführerischer Männer kennenlernte – und er sich sicher war, dass sie sich keinem hingegeben hatte. Und auch, dass sie noch lange nicht soweit war, diesen Schritt zugehen, nach seiner Einschätzung stand bis dahin noch ein langer Weg bevor …
Das Band zwischen ihnen war durch Claras Verständnis für seine Malerei noch enger geworden. Es hatte ihn mit großer Rührung erfüllt, als sie sich nach der enttäuschenden großen Ausstellung von 2006 so aufopferungsvoll um ihn gekümmert hatte, nach dieser Jahr für Jahr aufgeschobenen »Ausstellung seines Lebens«, die erst vor zwei Jahren stattgefunden hatte. Gute Kritiken und punktuell auch recht gute Verkäufe – angesichts der Strenge der Bilder war das beileibe keine Desaster. Dennoch erlebte Michel das Ereignis als ein Scheitern. Es war nämlich nicht sein Ziel gewesen, nach all den Jahren harter Arbeit eine weitere gute Ausstellung zu machen, sondern er hatte in naiver, rührender Weise, ohne Eitelkeit und vielleicht sogar ohne Hochmut, ganz einfach nur die Welt aus den Angeln heben wollen – doch das war ihm nicht gelungen, die Welt hatte sich ihm widersetzt.
Um das Ganze zu krönen, war einige Tage nach der Vernissage auch noch sein alter, treuer Zeichenlehrer Valette gestorben. Michel, der sonst selten Gefühlsregungen zeigte, war bei der Nachricht hemmungslos in Tränen ausgebrochen.
Clara hatte ihm in dieser harten Zeit wie eine liebevolle, reife, erfahrene Schwester zur Seite gestanden. Was Michel in den Monaten nach der Ausstellung ohne ihre Unterstützung getan hätte, mochte er sich lieber nicht ausmalen. Sie hatte ihm nicht nur geholfen, seine Enttäuschung zu überwinden, sondern mit ihrer ernsthaften und aufrichtigen Bewunderung, die sie seinen Arbeiten verdientermaßen entgegenbrachte, zu verhindern gewusst, dass er von radikalen Selbstzweifeln zerfressen wurde.
Und so hatten sie sich einander immer enger verbunden gefühlt.
Trotz der vielen gemeinsam verbrachten Zeit führte jeder sein eigenes Leben, sagte sich Michel zur Beruhigung. Clara war noch beschäftigter als ihr Onkel, da sie häufig durch Frankreichund auch ins Ausland reiste. In manchen Wochen liefen sie sich im Haus nur flüchtig über den Weg. Michel hatte seine Kurse in Garches, seine eigene Arbeit (an der er festhielt, in die er eintauchte und in der er sich verlor, frei von jedem Gedanken an ein bestimmtes Publikum oder eine mögliche Ausstellung), seine zahlreichen Beziehungen, seine Freunde, seinen besten Freund, den treuen Bertrand (der mit dem Alter immer magerer, immer bleicher und bei ihren ausgedehnten Schachpartien immer schweigsamer wurde), und er hatte Muriel.
Diese illusionäre Unabhängigkeit hinderte ihn jedoch nicht daran, sich allmählich in eine ausweglose psychologische Situation zu manövrieren. Etwas Unheilvolles braute sich zusammen, etwas, gegen das er wehrlos war. Er führte mit Clara eine Partnerschaft, in der er sie gefangen hielt, ob er es wollte oder nicht, und das Opfer fügte sich bereitwillig in sein Los, diese Glanzleistung hatte er vollbracht.
Eines Tages fragte er sich in einem Anfall schmerzlicher Hellsichtigkeit, ob Muriels Rolle unter anderem nicht darin bestand, durch völlige sexuelle Erschöpfung sein Verlangen nach Clara abzuschwächen … Der Gedanke war erstickend, unerträglich. Es gelang ihm, ihn wieder zu verdrängen und sich davon zu überzeugen, dass er sich grundlos quälte, aber an jenem Tag wäre er am liebsten gestorben.
Er war kein großer Künstler, würde es nie werden. In seinem Leben würde sich nichts mehr ereignen. Auf welche Veränderung konnte er noch hoffen?
Beim Nachtisch kam ein Sänger mit Gitarre ins Restaurant und sang italienische Liebesschnulzen. Die italienische Sprache weckten in Michel und Clara dieselben Erinnerungen, und so begannen sie fast gleichzeitig über die gute alte Sylvie zu reden.
Dann dachten beide, ohne etwas zu sagen, auf ihre
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