Gesetzlos - Roman
Programmkino kamen, aber Michel sollte es, wie gesagt, nie erfahren.)
Michel klingelte an der Wohnungstür. Muriel machte umgehend auf. Sie trug ein dünnes rotes Kleid, über das ihre langen schwarzen Haare fielen. Sie küssten sich. Michel spürte ein Bedauern – warum heute so heftig? –, dass er sie nicht mehr und besser liebte – sie oder auch eine andere –, nicht ein Leben wie jeder andere führte – anstatt sich insgeheim mit dem Gedanken krank zu machen, Clara könne eines Tages einen Liebhaber finden.
Er kam als erster im Restaurant an (einem neuen Italiener in der Rue des Martyrs, den Bertrand ihm empfohlen hatte) und setzte sich an den reservierten Tisch. Zehn Minuten später sah er Claras kleinen schwarzen Austin vorfahren, und bald erschien seine Nichte: Hoch gewachsen und mit einem engen T-Shirt bekleidet (das ihre Brüste gut zur Geltung brachte und es einem durch seine schwarze Farbe wesentlich erschwerte, ringsumher noch irgend etwas anderes zu sehen als ihr blondes, nuancenreiches Haar) betrat sie den Raum und lächelte ihren Onkel an. Dieses Lächeln, das die obere Zahnreihe nur einen Hauch zu weit entblößte – um jene (bereits im Prolog erwähnten) paar Zehntelmillimeter, die die Schönheit ihres Gesichts voll erblühen ließen und auf deren sorgfältige Wiedergabe er sich bei den Portraits besonders konzentrierte, wühlte Michel stets von Neuem auf.
Sie erzählten sich ihren Tag, Michel unter Auslassung der Geschichte mit Muriel, und Clara mit größerer Ausführlichkeit als geplant von der Konzertprobe, denn sie hatte Lust, Michel von Vincent als einem Freund zu erzählen, den sie sehr schätzte. (Das war ganz fraglos der Fall, Vincent war ihr in amouröser Hinsicht gleichgültig. Aber als er sie heute auf die Wange geküsst, hatte sie wieder nicht dieses innerliche Zurückschrecken empfunden, das sie bei den anderen spürte. Und sie fand ihn amüsant. Er brachte sie bei jeder Gelegenheit zum Lachen.)
»Wie alt ist er?«, fragte Michel.
»Siebenundzwanzig.«
»Und ein ausgezeichneter Violinist, wie ich annehme?«
»Ja! Er hat schon zwei internationale Preise gewonnen. Mireille Bel macht sich auch langsam einen Namen. Nur ich bin die lahme Ente des Trios …«
»Versuchst du mich zum Lachen zu bringen, mein Liebling?«
»Die beiden sind wirklich großartig. Du wirst sehen. Außerdem ist Mireille ein sehr hübsches Mädchen, und lieb obendrein. Und ihre Stimme … sie ist so bezaubernd!«
»Ihre Stimme? Singt Sie etwa auch?«
»Nein, aber sie hat eine sehr angenehme, ja melodische Stimme. Wir sind dabei, uns eng anzufreunden. Nach den Konzerten in der Bibliothèque wollen wir gemeinsam die Bachsonaten für Cello und Klavier einstudieren. Sie ist so reizend zu mir. Und auch zu Vincent.«
»Interessiert sie sich für ihn?«
»Ich glaube schon.«
»Aber er … lass mich raten: Er hat nur Augen für dich?«
»Ich fürchte schon«, räumte Clara amüsiert ein.
Die leicht frivole Wendung, die das Gespräch annahm, missfiel ihr nicht.
»Wie sollte man sich auch nicht für dich interessieren? Du bist ein Engel, mein Liebling, ein Engel.«
»Wenn, dann ist
Mireille
hier der Schatz. Sie könnte es mirnämlich übel nehmen, zumindest ein bisschen, aber sie tut es nicht.«
Michel wiederholte im selben Tonfall:
»Wie sollte man dir auch etwas verübeln? Du bist ein Engel, mein Liebling, ein Engel!«
Clara strahlte ihn auf einmal an wie ein Kind, das sich bis dahin nur zusammengerissen hat. Die Pizzen kamen (beide »Royal«, ebenfalls auf Empfehlung von Bertrand). Für einen Moment konnte sich Michel freuen über das, was Clara ihm erzählt hatte – die Welt wurde wieder normal, alles kehrte wieder in seine Ordnung zurück: ein Onkel, glücklich und stolz, dass seine Nichte eine talentierte Pianistin war, und eine wundervolle junge Frau … Doch der Zustand war nicht von Dauer, ach, denn schon bald setzten ihm wieder die üblichen qualvollen Gefühle zu. Er war sich der Tatsache nur allzu sehr bewusst, dass er Clara in eine Art Familienkerker eingesperrt hatte, und vielleicht auch, dass er ihre alles verschlingende Leidenschaft für die Musik allzu sehr befördert hatte. (Schließlich wusste er aus leidlicher Erfahrung, wie sehr eine solche Passion einen von der Welt abschotten konnte.) Andererseits hatte er den Eindruck, dass sie nicht unglücklich war und sich mit ihrer Situation arrangierte, was sein schlechtes Gewissen nur verstärkte. Eines Tages hatte er in einem Moment der
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