Gesichter der Nacht
Weges
zu Fuß.
Vorsichtig näherte er sich der
Wohnung. Am Eingang zum Hof blieb er stehen und spähte
prüfend in den Schatten. Nach ein paar Sekunden hatte er sich
vergewissert, daß ihm niemand auflauerte. Er ging zur
Wohnungstür und läutete.
Erst Stille. Dann hörte er Schritte, und Jenny rief: »Wer ist da?«
»Marlowe«, sagte er.
Ein Riegel wurde zurückgeschoben, ein
Schlüssel klickte im Schloß, und dann ging die Tür auf,
und Marlowe sah Jennys blasses, verängstigtes Gesicht. »Was
soll das ganze Theater?« fragte er.
Sie zog ihn nach drinnen, verriegelte die Tür,
wandte sich ihm zu. »O Hugh, Liebling. Du kannst dir gar nicht
vorstellen, wie froh ich bin, daß du da bist.« Sie fiel ihm
um den Hals.
Marlowe hielt sie eine Weile in den Armen. Dann schob
er sie sanft von sich und runzelte die Stirn. »Was war?«
Sie führte ihn in das große Zimmer, setzte
sich aufs Sofa und zog ihn mit. »Ich bin heute am späten
Nachmittag zurückgekommen«, sagte sie. »Bald darauf
hat mein Onkel hier vorbeigeschaut.« Sie zitterte bei der
Erinnerung. »Er war fast irr vor Zorn. Er hat gesagt, ich
wäre eine Verräterin, und hat behauptet, ich würde mit
dir unter einer Decke stecken. Ich habe ihm gesagt, daß ich
gehe.«
»Und wie hat er darauf reagiert?«
Abscheu spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Er hat
mir zwei Ohrfeigen gegeben und mich zu Boden gestoßen.« Sie
schob den Kragen ihres Kleides beiseite und zeigte Marlowe einen blauen
Flecken an der rechten Schulter. »Da, schau's dir an. Er hat
gesagt, ich würde mich nicht trauen, ihn zu verlassen. Er hat mein
ganzes Geld und meinen Schmuck an sich genommen. Sogar meine Pelzjacke.
Er hat gesagt, ich würde bald wieder zur Vernunft kommen.«
Marlowe lehnte sich zurück und kniff
die Augen zusammen. »Also, ehrlich – nach einer normalen
Beziehung hört sich das nicht gerade an. Hat er schon mal
versucht, dir zu nahe zu treten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nie. Um dir
die Wahrheit zu sagen – ich habe mich am Anfang gefragt, ob er
nicht genau das von mir wollte, aber bis heute hat er sich immer
anständig aufgeführt.«
»Warum hast du die Tür abgeschlossen?« fragte Marlowe.
Sie lächelte matt. »Er hat Monaghan
hergeschickt. Der sollte meinen Wagen holen. Er hat versucht, in die
Wohnung einzudringen, und ich mußte ihm die Tür vor der Nase
zuschlagen.« Ihre Augen sprühten Haß. »Er hat
mich ewig lang durch den Briefschlitz beschimpft.« Sie schauderte
zusammen. »Und was er alles gesagt hat… das war
furchtbar.«
Marlowes Blick verfinsterte sich, und er ballte die
Faust. »Mach dir keine Sorgen deswegen, mein Engel. Wenn er mir
das nächste Mal über den Weg läuft, werd ich's ihm
heimzahlen.«
Jenny ging zur Hausbar und schenkte einen Whisky Soda
ein. Sie lächelte freudlos, als sie Marlowe das Glas gab.
»Was soll ich nur machen, Hugh? Ich habe mich in ein
schreckliches Chaos hineingeritten.«
Marlowe stellte seinen Drink ab. »Warum bist du zurückgekommen?«
»Weil ich schwach bin«, sagte sie.
»Weil mich in dem Moment, in dem ich heute morgen allein in
London war, meine guten Vorsätze im Stich gelassen haben. Ich
hatte nur noch Angst. Angst, allein auf der Welt zu sein. Angst, kein
Geld zu haben.«
»Angst, arbeiten zu müssen?« fragte er sanft.
Sie verzog das Gesicht. »Jetzt sei
nicht gemein, Hugh. Ich weiß, daß ich schwach bin. Und ich
mache wenigstens kein Hehl daraus. Ich bin zurückgekommen, weil
ich dachte, viel leicht ist ein Kompromiß möglich. Aber dann
habe ich entdekken müssen, daß ich Partei ergreifen
soll.«
»Und mit welcher hältst du's?«
Schmerz überschattete ihre Augen.
»Mußt du das gesagt kriegen?« fragte sie.
»Mußt du das wirklich gesagt kriegen?«
Er blickte in ihr schönes, kindliches Gesicht,
und die alte Wärme regte sich in ihm. Er beugte sich über
sie, und sie legte ihre Hand auf seinen Nacken und ließ sich in
die Kissen sinken und zog ihn mit. Er spürte ihre Weichheit, an
ihn geschmiegt, ihm nachgebend, und er drückte seine Lippen auf
die ihren.
Nach einer Weile löste sie sich von ihm.
»Ich bin so froh, daß ich dich erreicht habe, bevor du nach
London gefahren bist.«
Marlowe küßte den wannen Ansatz ihres Halses. »Ich fahre nicht nach London.«
»Warum nicht?« fragte sie erstaunt. »Ich dachte, das wäre sehr wichtig für euch?«
»Ist es auch«, sagte er. »Aber heute fährt Mac.«
»Ach
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