Gesichter im Nebel (German Edition)
ganz im Gegensatz zu ihm und seinem Vater, eine regelrechte Leseratte gewesen war. Natürlich sprach sie am Abendbrottisch manchmal über ihre Lektüre und ihre Gedanken dabei und da blieb allerhand an Allgemeinwissen bei dem jungen Paddy hängen. Ihre Bücher auf einem Regal im elterlichen Schlafzimmer wurden von ihm auch nach Mutters Tod nicht angetastet und verstaubten mit den Jahren, aber er wagte nicht, sie irgendwo anders zu verstauen, es waren eben doch Andenken an diese herzensgute, fromme Frau.
Nach dem ersten Studium seiner Lektüre rang sich Paddy O’Donohogue dazu durch, die Kladde erst mal sorgfältig wieder in das Wachstuch einzuschlagen und zwischen die Bücher aus dem elterlichen Nachlass zu stellen. Er musste das Gelesene erst einmal verdauen. Außerdem konnte er das schöne Wetter nicht länger ignorieren und er fuhr wieder hinaus auf die See. Es tat ihm gut, es erfrischte ihn sogar.
Wenn er dann zur Silhouette seiner Insel über die dunklen Wasser des wogenden Ozeans blickte, wurde ihm klar, wie unwahrscheinlich seine Geschichte auf jemanden Außenstehenden wirken müsste. Dieser Fels im Meer, dieser Vorposten der europäischen Welt in den Weiten des Atlantiks, ausgerechnet er sollte Hunderte ruheloser Geistwesen beherbergen? Es klang nach dummem Aberglauben, nachgerade verrückt. Und wenn er nicht um das Schriftstück wüsste, es in Händen gehabt und darin gelesen hätte, es nicht jetzt im Regal neben all den anderen Werken stünde, meiner Treu, er hätte es selbst nicht glauben können. Und schon alleine deshalb musste er damit sehr sorgfältig umgehen, er fühlte sich geradezu zum Schweigen verurteilt. Wenn er es je brechen wollte, dann kam dafür nur Xirian in Betracht. Der Verschwiegenheit des alten, weisen Mannes konnte er gewiss sein.
Der Franzose
Die Begeisterung von Brighid für das verträumte, ja irgendwie verzauberte Inselchen hielt auch nach den ersten Tagen an.
Sie hatte bereits das Umfeld der Herberge erkundet und den ersten, dramatisch schönen Sonnenuntergang genossen. Glutrot, flammgelb, dräuend violett in einigen Wolkenformationen, mit den grünlich, türkis changierenden Schlieren vereinzelter Cirruswolken hoch am Firmament gekrönt, bescherte er ein immer neues Farbenspiel, wie es eben nur auf der offenen See in dieser Fülle möglich ist.
Sie stieg frühmorgens zum alten Lighthouse auf, trat dann bis an den Rand des steilen Kliffs und sah Tausende von Vögeln in den Felsen. Die heiseren Schreie der gefiederten Segler erfüllten alsbald die Luft. Aufgeregt flatterten sie hin und her und fürchteten anscheinend durch das Auftauchen eines menschlichen Wesens ihre Brut gefährdet. Der Blick der jungen Frau schweifte über die mäßig bewegte See, die Dünung des von hier oben herrlich blauen Atlantik – den ewig scheinenden Atem des Meeres, aus dem doch letztlich alles Leben auf diesem Planeten entstand. Brighid wurde sich dessen in diesen Minuten mehr denn je bewusst und ihr Herz füllte sich mit ehrfurchtsvoller Bewunderung für die Schöpfung. Sie hätte jubeln können und schwieg dennoch fast andächtig.
Ja, die Fahrt aus dem Gewühl, dem brausenden Lärm der großen Stadt in diese erhabene Stille, sie hatte sich wirklich gelohnt. Sie weckte wieder das Bewusstsein für die Naturschönheiten ihres Heimatlandes, die seit vielen Jahren so viele Touristen vom Festland auf die Grüne Insel lockten und deren Bewohner all das selbstverständlich hinnahmen und lange Jahre so sorglos damit umgingen, weil ihnen das Gefühl für die dauerhaften Schäden ihrer hausgemachten Umweltverschmutzung fehlte. Die meisten Leute hielten diese Sünden zur Mehrung ihres materiellen Wohlstands für notwendig und sogar jetzt noch für unumgänglich.
„Ist die Menschheit denn blind?“, fragte sie sich insgeheim, angesichts dieses großartigen Ausblicks über das Meer, die Inseln, die Küste und die fernen Berge. „Ein falscher Kurs wird wirklich nicht dadurch richtig, dass ihn viele segeln, ganz gewiss nicht!“
Sie erinnerte sich, dass der Vater ihr einmal erzählt hatte, Untersuchungen der ausgegrabenen Skelette aus der Frühzeit hätten gezeigt, wie sorglos auch diese frühen Menschen mit ihrer Umwelt umgegangen waren. Denn die Wissenschaftler hatten Schäden an den Knochen festgestellt, die nur dadurch entstanden sein konnten, dass die Kelten in ihren Siedlungen Abfälle bedenkenlos auf die Straße gekippt hatten, mithin sich allerlei Würmer und andere Parasiten ausgebreitet und zu
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