Gesichter im Nebel (German Edition)
mehr ergeben oder er hätte aufs Festland fahren müssen. Aber da hätte er sich kaum wohlgefühlt. Er war Caper, er war Fischer, er war ein Mann des Atlantischen Ozeans und kein Kartoffelkrauter. Er ging zurück in die Stube, braute sich einen Kaffee und setzte die unterbrochene Lektüre fort.
Heute würde er gewiss nicht mit seinem Boot rausfahren, obwohl sich die See wieder beruhigt hatte. Nein, er musste das Studium dieser brisanten Schrift zu Ende bringen, nun, da er einmal damit angefangen hatte. Manches war ohnehin aufgrund der verblassenden Tinte und einiger Beschädigungen des alten Papiers nur mühsam zu entziffern. Zuweilen fehlten ganze Worte und er musste sich den Rest zusammenreimen.
„Nun wusste ich gleich um zwei Geheimnisse unserer Insel und ich gebe zu, es belastete mich über Gebühr“, las er weiter, „ich konnte fortan keinem Menschen mehr begegnen ohne eine dieser ruhelosen Seelen, diese Luftwesen, hinter ihm zu ahnen. Ja, ich entwickelte sogar ein rechtes Gespür dafür, ob das gerade der Fall war oder nicht. Ich merkte es an Äußerungen der betreffenden Person und, obgleich ich zunächst eine gewisse Furcht in mir spürte, ich begann damit, diese undefinierbaren Schattengestalten zu provozieren, indem ich sie über meinen Gesprächspartner sozusagen indirekt anredete.
Natürlich tuschelten manche Leute hinter meinem Rücken über mich. Ich sei in letzter Zeit etwas merkwürdig geworden und sie verstünden mich manchmal nicht so ganz. Aber das war mir gleichgültig, ich wollte einfach mehr wissen. Denn ich vermutete, dass es einen besonderen Grund geben müsse, warum ausgerechnet unsere Insel dazu auserkoren war, diese Anderswelt zu beherbergen.
Hing das vielleicht mit der grauen Vorzeit zusammen, mit der heidnischen Religion unserer Vorfahren, den Umgang mit anderen Göttern? Sie hatten ja fest daran geglaubt, dass es ein Leben nach dem Tod und eine Wanderung der Seelen gibt. Ich wollte jedenfalls das alles herausfinden, mir selbst das Mysterium erklärbar machen. Ich ahnte zwar, dass dies auch gefährlich sein könnte. Dennoch kitzelte mich die Neugier über alle Maßen.
Mein Gespür nahm täglich zu. Ich konnte beispielsweise voraussehen, wann ein Mann plötzlich böse zu werden drohte. Es war, als schlüpfe eine dieser merkwürdigen Luftgestalten in ihn oder flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sodann vermied ich, das Gespräch mit der betreffenden Person weiterzuführen. Ich hatte schließlich bereits beobachtet, wie sich zwei unserer Leute unter diesem Einfluss und ganz ohne jeden Grund unvermittelt in den Pelz gerieten. Auch stellte ich fest, dass im Bannkreis unserer Kirche und an der heiligen Quelle am Hafen nie so etwas geschah. Also schaute ich darauf, dass bestimmte, heikle Sachen möglichst dort zur Sprache kamen. Ich bin mit diesem Wissen gut über die Runden gekommen. Ja, das kann ich wohl sagen. Und wer dies liest, dem rate ich dringend an, gleichermaßen zu verfahren. Er erspart sich sicher manchen unnötigen Ärger.“
Paddy hielt erneut inne und lugte aus dem Fenster. Draußen sah er gerade Xirian im Gespräch mit dem Postmaster vorbeilaufen. Sofort schoss ihm durch den Sinn, wenn er sich je jemanden in dieser Sache anvertraute, dann war es dieser blinde, alte Mann. Der würde ihn garantiert ernst nehmen. Ja, das war vielleicht die richtige Idee und er musste mit der Last dieses Wissens nicht alleine dastehen. Vielleicht fiel dem Seher sogar noch etwas Hilfreiches dazu ein.
Der gute Paddy konnte ja nicht wissen, dass sich Xirian mit ähnlichen Problemen abplagte, ebenfalls um die Existenz solcher unsichtbarer Inselbewohner wusste und alles darum gegeben hätte, mehr darüber zu erfahren. Bei diesen Bemühungen konnte ihm der einfache Fischersmann mit Sicherheit ein gutes Stück weiter helfen.
Aber so weit war es noch nicht. Erst musste er die Lektüre zu Ende bringen. Er beugte sich wieder über das Schriftstück.
„Nach einiger Zeit dieses Spiels suchten mich plötzlich nachts unheimliche Träume und Gesichte heim. Ich war sicher, dass dies unter dem Einfluss der Geisterwelt geschah. Es schien ihnen ein Mittel, sich mir mitzuteilen und mir mehr über diesen Fels im Meer zu berichten.
Frage mich keiner, warum sie gerade mich dazu auserkoren hatten und nicht jemanden anderen, ich weiß es nicht zu sagen, nein, wirklich nicht.
In diesen nächtlichen Visionen nahm ich verschiedene Rollen ein, einmal war ich Pirat, ein andermal ein weiser Seher oder ein französischer
Weitere Kostenlose Bücher