Gesichter im Nebel (German Edition)
wert.“
„Du hast recht. Komm morgen, wenn es hell wird, wieder her und wir starten das Experiment. Ich bin jetzt rechtschaffen müde und du sicher auch. Lass uns zu Bett gehen und für heute Schluss machen.“
Als der blinde Mann ins Freie trat, spürte er sofort wieder die Unruhe in der Geisterwelt um sich herum.
Die Schatten schienen aufdringlicher und zahlreicher als gewöhnlich, schwirrten hin und her. Sein sensibles Gespür signalisierte ihm, dass irgendetwas Ungewöhnliches vor sich ging, etwas, das ihm natürlich verborgen blieb.
Diesmal fragte er sie nicht mehr, was sie wollten. Die Zeit würde mit Gottes Hilfe von alleine die Rätsel lösen. Vielleicht schon morgen sollten ihr Pläne aufgehen.
Paddy fiel wenig später in einen unruhigen Schlaf. Der fast volle Mond leuchtete blass durch die Nebeldecke und machte ihn schier verrückt. Er stand erneut auf und hängte eine Wolldecke vor das Fenster seines Schlafraums. Aber auch das half nicht viel. Wilde Träume plagten ihn. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Nach kurzer Zeit war er schweißgebadet. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Paddy war aufgewühlt, als spüre er, dass diese Nacht keine normale Nacht war.
„Was ist nur los heute Abend?“, fragte er sich ein ums andere Mal. Dann hielt er es nicht mehr aus. Er sprang aus dem Bett, warf sich in einen mantelartigen Umhang und ging vor die Tür. Vielleicht hilft ein kurzer Spaziergang, dachte sich der Fischer. Die dichten Nebel umhüllten ihn und gaben ihm das Gefühl, in eine unwirkliche Welt hinein zu schreiten.
Und noch jemand wurde von Alpträumen geplagt. Es war Paddle, der auf seinem schmuddeligen Lager, Angstschweiß auf der Stirn, dem Morgenlicht entgegen fieberte. Er konnte es sich selbst nicht erklären, es war wie eine unsichtbare Macht, die ihn in dieser Nacht rief, drängte, ihn willenlos machte.
Der sonst von Ängsten gepeinigte Mann stand nun ebenfalls auf und ging vor die Tür, schnupperte in den Nebel und machte sich auf den Weg zum Hafen. Er wusste nicht zu sagen, warum, was ihn antrieb, was ihn umtrieb.
Doch anstatt zu den Schiffsliegeplätzen zu humpeln, wie er es vorhatte, schlug er in seiner Verwirrung den Weg zum alten Lighthouse ein.
„Ja, komm Alter, geh’ weiter“.
Er meinte, plötzlich eine eindringlich wispernde Stimme neben sich zu hören. Und er erschrak nicht einmal.
„So ist’s gut. Heute wirst du von deinen Qualen erlöst werden. Das verspreche ich dir!“
Und wieder gegen seine Gewohnheit: Der alte, verlauste Sonderling fürchtete sich nicht. Es war, als habe eine fremde Macht Gewalt über ihn und verdränge seine früheren Todesängste, gab ihm ein Gefühl von fast heiterer Leichtigkeit, eine Seelenregung, die er seit Jahren und mit der Last von allerlei altersbedingten Zipperlein und der mahnenden Stimme seines Gewissens nicht mehr gespürt hatte.
Nach mühsamem Aufstieg erreichte er das Gemäuer. Dann sah er sie. Hunderte von schattenhaften Gestalten schienen um den stillgelegten Leuchtturm zu schweben, zu tanzen, zu wirbeln. Gesichter tauchten aus den Nebelschwaden auf, stierten ihn an, zerflossen wieder zu grauem Nichts. Generationen von unruhigen, unerlösten Seelen, er konnte sie, wie einem Traum entstiegen, sehen, ja meinte sogar, ihren Lufthauch zu fühlen, kamen sie ihm nahe.
Die Schatten formierten sich plötzlich zu einer Prozession, in der er feierlich die Mitte bildete. Fast beschwingt schritt der alte Mann in seinem Fischgrätmantel mit ihnen dahin, mit seinem einen Schuh, den anderen Fuß in einer löchrigen Socke, den alten Speckhut auf dem Kopf und in die Stirn gezogen, die unvermeidliche Krawatte um den Hals. Seine wässrigen Äuglein tropften wie immer, aber sein Gesicht erstrahlte dennoch in einer nie gekannten Freude. Ja, er fühlt sich wie erlöst, so wie es die geheimnisvollen Stimmen versprachen.
Unversehens löste sich die Prozession auf. Die Schatten waren nun hinter ihm. Er fühlte sich geschoben, getragen fast, wie von unsichtbaren Schwingen vorwärtsgetrieben.
Es war der Rand des steilen Kliffs, an dem er ankam und an das der Ozean unermüdlich mit seinen Wogen pochte und die Gischt meterhoch empor warf, obwohl der Spiegel der See weiter draußen jetzt fast glatt war und sich nur sanft von der von weither kommenden Dünung auf und ab wiegte.
Paddle machte einen letzten Schritt und fiel glückselig ins Dunkel. In diesen letzten Momenten hörte er sie wieder, die Stimme der Hexe, ihr fast obszönes
Weitere Kostenlose Bücher