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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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Als Gabor abbog, klopfte ein Mann in weißem Unterhemd auf die Motorhaube, machte das Victoryzeichen. Die Ausgelassenheit, die Gewissheit, unverwundbar zu sein. Kaum einer von ihnen war älter als Mitte zwanzig. Sie trugen die Versprechen der Zukunft wie Kleidungsstücke. Es war ihm schleierhaft, wie Yann hier leben konnte, als berauschte er sich an einer ewigen Aufbruchsstimmung, als tauchte er im Gewimmel unter. Seit Gabor selbst Vater war, gehörten für ihn alle, die ein Jahrzehnt jünger waren, schon zur Generation seiner Tochter, lebten wie durch eine unsichtbare Scheibe getrennt in ihrer eigenen Welt. Er hielt in der Einfahrt vor Yanns Haus, stellte den Motor aus. Yann hatte die Hand schon am Türgriff.
    »Danke für’s Fahren«, sagte er.
    »Warte.«
    Yann sank in die Lehne zurück, sah ihn abwartend an. Gabor starrte auf das Rund des Tachometers. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie schmal die Nadel der Geschwindigkeitsanzeige war, wie elegant ihre Spitze auf dem Plastikstift auflag. Wie lange kannten sie sich? Zwanzig Jahre. Ein lapidares Nicken, nachdem sie sich nach einer Vorlesung auf der Straße begegnet waren, ein schweigsames Essen an benachbarten Tischen in der Mensa – wenige Tage später saßen sie schon nebeneinander in der Vorlesung.
    Er warf Yann einen Blick zu. Er schien auf nichts vorbereitet, und Panik stieg in Gabor auf, doch der Gedanke an das, was er gleich sagen würde, beruhigte ihn. Es war von Anbeginn eine Zwischenlösung gewesen, ein Unterschlupf, etwas, das unter der Hand eingefädelt worden war, um irgendwann komplikationslos zu enden.
    »Yann, hör zu: Ich werde deinen Vertrag nicht verlängern. Es geht nicht mehr.«
    Für einen Moment herrschte Stille, dann hörte er Yanns entsetzte Stimme.
    »Wie bitte?«
    »Du hast verstanden. Es tut mir leid.« Gabor blickte wieder auf die Nadel des Tachometers.
    »Das kann doch nicht wahr sein. Weil Lavinia sich über mich beschwert hat?«
    Gabor schüttelte den Kopf.
    »Oder bist du eifersüchtig?«
    »Ich habe nie verstanden, warum du bei uns arbeitest. Mir kommt es vor, als vertreibst du dir die Zeit. Es ist wie damals. Du nimmst weder uns noch die Arbeit wirklich ernst.« Gabor sah Yanns Fassungslosigkeit und konnte selbst nicht fassen, was er tat, obwohl er gleichzeitig glaubte, diesen Moment schon erlebt zu haben, wie manchmal, wenn man etwas, das man insgeheim mit sich herumträgt, endlich in die Tat umsetzt. Gabor holte tief Luft. »Deine Ambitionslosigkeit ist für uns alle eine Provokation«, sagte er. »Du bist nicht lässig, sondern nachlässig.«
    Das Knacken des Motorblocks, das leise säuselnde Radio, das die Stille umso intensiver machte. Als er wieder zu Yann blickte, lächelte der schon wieder überlegen.
    »Du bist mit meiner Arbeit als Arzt also nicht zufrieden?«
    »Das habe ich nicht gesagt«, antwortete Gabor und sah durch die Scheibe auf die erst kürzlich gestrichene ockerfarbene Fassade des Hauses und die Tür mit dem massiven Messingknauf. Er dachte an die Karte auf Berits Nachttisch, doch sie löste nichts mehr in ihm aus. Sie hatte ihren Schrecken verloren.
    »Gut«, sagte Yann irgendwann. »Gut«, sagte er noch einmal und stieg aus.
    Die Wucht der Erleichterung traf Gabor verspätet, erst als er wieder über die nachtleere Autobahn gen Süden fuhr, aber dann so stark, dass er nicht mehr wusste, wie er diesen Schritt so lange hatte vor sich herschieben können. Im Haus war es still. Er machte kein Licht, schlich hinein wie auf fremdes, unbekanntes Gebiet, das Schritt für Schritt zu seinem wurde. Die Luft war körnig wie ein Gegenstand. Fenster standen offen, es gab kühle Strömungen und warme Zonen in den Nischen und Ecken. Er stieg die Treppe hinauf, mit anwachsendem, unkontrollierbarem Stolz auf sein, auf ihr Leben, auf das, was sie geschaffen hatten, was sich zwischen Berit und ihm gebildet und mit den Jahren um sie angereichert hatte. Er war stolz auf die Kinder, auf seine, auf Berits Arbeit. Das Haus mit den Zimmern voller Kram und Erinnerungen, die Wege des Tages, die Handgriffe, die vertrauten Gesten und Berührungen, die Gewissheit, mit Berit an einem Strang zu ziehen, obwohl er das, was sie trieb und zusammenhielt, niemals hätte in Worte fassen können. Alles, was er sich wünschte, schien greifbar zu sein. Er stand barfuß auf den warmen Dielen des Flurs, von dem die Schlafzimmer abgingen, überwältigt von dem Moment. Maltes Tür war angelehnt, die Straßenlaterne warf mattes Licht durch die Vorhänge

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