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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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über den Bezug des Sofas. Weingläser auf dem Wohnzimmertisch, Aktenordner lagen auf den Dielen, in denen sie vorhin geblättert hatte. Er sah sie an, richtete seinen Blick wie einen Scheinwerfer auf das Gesicht seiner Frau, der ihre Mimik, das Muskelspiel der Nachdenklichkeit zu verstärken schien. »Da ist diese Frau«, sagte Berit. »Sie will ihr Erbe nicht annehmen. Sie ist als junges Mädchen ins Kloster gegangen und hat seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie.«
    »Sie kann es doch dem Kloster spenden«, sagte er.
    »Nein, nein. Sie ist schon lange keine Nonne mehr. Sie durften nicht mehr als eine Stunde in der Woche sprechen, und als sie gegen eine andere Regel verstieß, musste sie sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden legen und die anderen sind über sie drübergelaufen. Nach zehn Jahren hatte sie die Schikanen satt. Sie hat das Kloster verlassen, sich in eine Talkshow gesetzt und gesagt, dass sie einen Mann sucht.«
    »In einer Talkshow?«, fragte er verwundert. »Hat es was gebracht?«
    »Nein. Zumindest ist sie schon lange wieder allein. Eine schöne Frau, die viele Jahre als Krankenschwester gearbeitet hat und der man die siebzig nicht ansieht. Sie sagt, sie will das Geld nicht. Das Geld anzunehmen bedeute, all das zu verraten, was ihr wichtig sei.«
    Gabor versuchte es sich vorzustellen: Berit im Gespräch mit einer älteren Dame. Ihr Kopf, leicht zur Seite gelegt. Ihr Staunen, ihre entwaffnende Aufmerksamkeit.
    »Um was für eine Erbschaft handelt es sich denn?«
    »Kein Haus, aber Geld. Dreihunderttausend.« Berit klang ungeduldig, als beinhaltete seine Frage die Unterstellung, es ginge ihr nur um die Provision. »Sie hat überhaupt keinen Bezug zu ihrer Familie. Keinen Groll oder Ähnliches. Sie ist stark und frei – und völlig allein.«
    Sie kniff die Augen zusammen, als wollte sie dem Rätsel dieser Frau auf den Grund gehen, doch plötzlich griff sie nach seiner Hand und sah ihn erleichtert an, mit geradezu flehender Dankbarkeit darüber, dass sie einander hatten. Er lächelte, dann schaute er weg. Für sie kam alles einem Wunder gleich, und es ärgerte ihn, dass sie die Einsamkeit dieser Frau dazu benutzte, ihr Zusammensein wieder zu einer Sache der Fügung zu machen.
    Aber er musste zugeben, dass diesen Tagen etwas Wunderbares anhing, einem nach dem anderen, und es schien nicht aufzuhören. Sie trafen sich wie zu einem Rendezvous in ihrem eigenen Haus, wechselten von einem Zustand in den anderen, als würden sie durch eine unsichtbare Tapetentür die Sphäre des Schweigens betreten. Berit ging durchs Zimmer, kippte das Fenster, warf Sachen über den Stuhl. Sie legte sich ins Bett, als wäre er nicht anwesend. Sie wickelte sich in die Decke, zog die Beine an, nur ihr Gesicht schaute hervor, und ihre Hand, auf Höhe der Knie. Sie sprachen über Belangloses, über Maltes Kindergartenschwimmen, darüber, dass ein Grundstück zum Verkauf stand. Ihre Stimmen wurden leiser, die Abstände zwischen den Wörtern größer, doch wenn er ihre Hand berührte, war sie warm und öffnete sich. Sie hob ihren Schenkel, und die Decke war verschwunden. Ihre Bewegungen waren langsam und jede Berührung wie doppelt. Einmal aus dem Impuls heraus und das zweite Mal richtig, sich des anderen, des eigenen Tuns klarer bewusst. Die Griffe, das Wälzen und Drehen, als wollten sie Abdrücke hinterlassen. Zwischendurch rührten sie sich kaum, seine Hände auf ihren Schulterblättern. Ihr Atmen war tief, stockte, kaum mehr zu hören.
    Die überraschende Finte, der neue Blick auf Altbekanntes. Die Mitglieder der Kommission wollten nicht überzeugt, sondern mitgerissen und daran erinnert werden, dass sie den schönsten Beruf der Welt ausübten. Er hatte es von der anderen Seite des Tisches oft erlebt. Sie wollten daran erinnert werden, dass sie glückliche Menschen waren. Es war kinderleicht, Aufmerksamkeit mit spektakulären Fällen von Gesichtsblindheit zu erregen, doch Gabor wollte in seinem Vortrag die Gesichtserkennung bei Gesunden in den Fokus stellen. Die interessantere Frage war doch: Warum können wir Gesichter überhaupt wiedererkennen? Gesichter, die wir zwanzig oder dreißig, manchmal sogar fünfzig Jahre nicht gesehen haben, aufgedunsene, abgemagerte oder in die Breite getriebene Gesichter, die ihren Charakter verändert haben: das Bindegewebe erschlafft, Wangen eingefallen, Nasen und Ohren vergrößert, und trotzdem – wusch! – ein Blitz des Erkennens, dreihundert Millisekunden schnell, und

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