Gesichter: Roman (German Edition)
Wiesen, hob den Becher an die Lippen und sagte: »Solche Steine gibt es hier nicht.«
Ihre Stimme klang verträumt. Sein Herz begann sofort zu rasen.
Es war kein Stein, sondern ein Felsvorsprung, der oberhalb eines Weges durch die Macchia wie eine scharfe Adlernase aus dem Berg ragte. Er hatte ihn gezeichnet und darunter die Pflanzen aufgelistet, die ihm ins Auge gefallen waren. Mit starrem Lächeln blickte Gabor über die Wiese, während sie fragte: »Wo hast du ihn gefunden?«
»Auf einer Wanderung zu den Nistplätzen der Möwen«, sagte er.
Berit zog die Karte aus der Jackentasche und betrachtete sie. Er streckte den Arm aus, sie gab sie ihm, und er sah seine Bleistiftzeichnung. Darunter stand:
Thymian, Salbei. Oregano, Lorbeer, Majoran. Das Kräutermeer war unglaublich. Du hättest viel mehr erkannt. Heute leihen wir ein Boot und schippern die Buchten ab. Und unsere verwöhnte Tochter darf Wasserski. Dein G.
Er ließ den Blick lange auf der Initiale des eigenen Namens liegen, bevor er den Mut fand, in die obere Ecke zu schauen. Ungläubig starrte er auf die gestempelten Türme der Marienkirche. München. Er – wenn er es war, der sie schickte – hatte zwei weitere Landesgrenzen überschritten. Er hatte eine deutsche Briefmarke aufgetrieben und die Karte in einen Postkasten auf Münchner Stadtgebiet geworfen. Gabor hob den Kopf. Ein einsames Pferd auf der Koppel. Auf dem Weg am Maisfeld näherte sich ein anderes, behäbig, mit hängendem Kopf, am Zügel geführt von einem Mann mit Reiterstiefeln und Helm. Erst als Berit den Arm hochriss und begeistert rief, merkte er, dass Malte auf dem Pony saß.
Alle Gäste nahmen das Abendessen gemeinsam an einer Tafel im Hauptsaal zu sich, unter Kronleuchtern mit Dutzenden brennenden Kerzen, und danach wurde im Hof ein großes Feuer entzündet. Männer, die eben noch Burgunder aus Kristall getrunken hatten, trugen Allwetterjacken und hielten Bierflaschen in der Hand. Berit sprach mit einer Frau, die er am Tisch nicht gesehen hatte, winkte Gabor heran, aber er tat, als verstünde er nicht. Vor der Backsteinwand des Stalls hob sich im Dunkeln eine kleine Gruppe ab. Tuschelnd steckten Mädchen die Köpfe zusammen, im Vorbeigehen sah er Glut von Zigaretten und gab vor, Nele nicht entdeckt zu haben. Seine Schuhe versanken in der morastigen Erde des Reitweges. Der Wind rauschte in den Maisstauden, die ihn weit überragten. Er erreichte das Ende der Koppel. Das Mondlicht verwandelte die Felder in eine milchige Seenplatte. Er folgte den Pferdespuren, blieb stehen, schaute dabei zu, wie die hellen Flecken schmolzen, als eine Wolke sich vor die Lichtquelle schob. In der einfallenden Dunkelheit klang das entfernte Lachen näher, war im nächsten Moment kaum noch zu hören, aber das Haus und seine Gäste, die Großzügigkeit, das Verschwenderische des Anwesens waren noch zu spüren. Er stapfte weiter, wollte das Gespinst dieses zauberischen Einflusses zerreißen, um einen klaren Gedanken zu fassen, die Grenze überschreiten, hinter der die öden abgeernteten Felder lagen und die Trostlosigkeit eines ehemaligen LPG -Dorfes begann. Plötzlich war da ein Pferd, nur eine Armlänge von ihm entfernt. Die Augen, die geweiteten Nüstern und das zur Seite geschobene Maul mit der hängenden Unterlippe, all das trat aus dem Schwarz direkt auf ihn zu, und er machte vor Schreck einen Satz. Dampfend stampfte es, nachdem es kurz gescheut hatte, an ihm vorbei, unbeirrt, als zöge es eine Last. Gabor sah immer wieder die gleiche Szene. Er sah sich selbst von oben. Wie er ausholt, die Bananentüte in den Laster wirft und danach die Tür verriegelt, aufgenommen im Schwarz-Weiß einer Bordkamera.
Wieder zu Hause, setzte er sich an den Computer. Er öffnete die Datei seines Vortrags und rief darüber die Maske einer Suchmaschine auf, in die er Fluchthelfer und verhaftet eingab: Schicksale aus dem zweiten Weltkrieg, Grenzgeschichten aus der DDR . Mut. Zivilcourage unter Lebensgefahr. Verhaftung, Folter, Hinrichtungen.
Es war das falsche Wort. Er schrieb: Schleuser . Der Kopf eines Rings, der afghanische Flüchtlinge nach Deutschland schleuste, wegen Menschenhandel zu acht Jahren Haft verurteilt. Fünf Jahre für zwei Schleuser aus Passau, einen Türken und einen Marokkaner. Bei Langen kurz vor Frankfurt entdeckten Fahnder fünf Männer aus dem Irak im Laderaum eines Lkws. Der Fahrer, ein 47-jähriger Bosnier, behauptet, nichts von seinen illegalen Passagieren gewusst zu haben, die der Polizei
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