Gesichter: Roman (German Edition)
hellen Tupfer auf den runden Mädchengesichtern von Vermeer, aber statt sich in die Fratzen von Goya oder die pastosen Gesichtsflächen Daumiers zu vertiefen, beides Maler, die Berit verehrte, betrachtete er lieber das Passfoto von Markus Mustermann, elektrisiert von der Fähigkeit des Gehirns, selbst diese Nullachtfünfzehn-Visage von anderen zu unterscheiden, obwohl er, wenn er ehrlich war, nicht sagen konnte, warum ihn diese menschliche Gabe so faszinierte. Nach diesem Zwischenfall verfolgte Berit seine Arbeit zwar weiterhin mit Wohlwollen, hielt sich aber mit spielerischen Kommentaren zurück und rief, wenn sie sich stritten, manchmal sogar: »Starr mich nicht so an!« Als würde er sie ansehen, abschätzen wie eines seiner Beispiel- und Referenzgesichter.
Die Schritte draußen auf dem Gang hatten abrupt gestoppt, aber als niemand klopfte, blätterte er weiter durch die Vorbereitungsbögen und Materialien, die er vor dem Staatsexamen unzählige Male durchgegangen war, damit ihm nicht das Gleiche wie bei den ersten beiden Anläufen zum Physikum passierte: durchgefallen. Schaumstoffkegel in den Ohren, hatte er in der Bibliothek gesessen, wiederholt und wiederholt, bis er dumpf eine Tonfolge und dann eine weibliche Stimme aus versteckten Lautsprechern hatte sagen hören: »Die Bibliothek schließt in fünfzehn Minuten.« Als einer der Letzten war er durch die Glastür nach draußen getreten, ausgelaugt, überwach. Die kalte Luft rein wie in den Bergen, die Lichtreflexe auf dem Kopfsteinpflaster, das Schild über dem Gasthaus gegenüber im gelblichen Schein der Straßenlaternen. Hinter sich hörte er das ausgelassene Lachen einer bekannten Stimme, während er sich herabbeugte, um das Fahrradschloss zu entriegeln. Er wandte sich um und sah Yann in Begleitung einer jungen Frau die Straße entlanggehen.
»Hey«, rief Yann überrascht, als er Gabor erkannte. Die beiden kamen Hand in Hand auf ihn zu. Gabor hatte Yann noch nie so unbeschwert gesehen.
»Bis zur letzten Minute, was?«
»Ja«, sagte er.
»Wo bist du gerade?«, fragte Yann, der das Examen schon hinter sich hatte.
»Noch immer bei der Inneren.«
»Alles halb so schlimm.« Er schaukelte mit der Hand des Mädchens, was Gabor aus den Augenwinkeln wahrnahm, denn obwohl er es angesehen hatte, während die beiden näher gekommen waren, schaute er jetzt nur Yann an.
»Das ist übrigens Gabor. Ein Freund aus der Uni. Und das ist Kyra.«
»Hallo«, sagte er.
Sie lächelte nur. Sie war einige Jahre jünger als Yann. Sie hatte ein schmales Gesicht und ihre helle Haut war so dünn, dass er glaubte, sie mit dem Blick zu berühren. Er wusste nicht, ob er sie schön fand oder ob ihre Ausstrahlung von ihrem Wissen rührte, dass sie für schön gehalten wurde. Sie wirkte zurückhaltend, aber auch ungeduldig, fast blasiert, als wäre sie es gewohnt und genervt davon, angestarrt zu werden. Doch dann fragte sie.
»Bist du auch aus Ungarn?«
»Was?« Er lachte. »Ach so, nein. Meine Eltern fanden nur den Namen schön.« Sie nickte, schon wieder desinteressiert. Danach herrschte Schweigen. »Und was macht ihr?«, fragte er.
»Kino«, sagte Yann und lächelte, als hätte er ihm nicht zugehört. »Na dann, wir sehen uns bald.«
Die beiden schlenderten weiter, während Gabor stehen blieb, aufgewühlt, vor Enttäuschung wie erstarrt.
6
Und die Karte? Hatte Gabor überhaupt einen Gedanken an die Karte verschwendet, nachdem er sie auf Berits Nachttisch gefunden hatte? Er konnte sich ihr Auftauchen nicht erklären und hatte sich verboten, über sie nachzugrübeln, obwohl sie noch immer in der Schublade lag und ihm der Strand mit den Tamarisken manchmal zufällig ins Auge fiel, wenn Berit sie öffnete, um ihre Ohrringe in die Schatulle zu legen oder ein Taschentuch herauszuholen.
Trotzdem wusste er sofort, was Berit meinte. Es war während einem ihrer regelmäßigen Wochenendausflüge ins Brandenburger Umland. Der hoch aufgeschossene Gutsbesitzer führte Malte auf einem Pony übers Gelände, während Nele mit anderen Mädchen bei den Ställen märkische Erde aus den Hufen schwerfälliger Kaltblüter kratzte. Berit und er saßen auf einer Bank vor einer Baracke, Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand. Bobbycars und Kinderfahrräder verstreut auf der ungemähten Wiese. Scheunen, zu Apartments mit bodentiefen Fenstern ausgebaut, weite Felder und auf der steinigen Fläche vor dem Herrenhaus die Volvos und Mercedes-Kombis mit Berliner Kennzeichen.
Berit schaute über die
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