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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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gegenüber angaben, insgesamt achttausend Euro für die Passage an ihn bezahlt zu haben. Ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe.
    Sein Blick saugte sich an einem Artikel fest. Ein iranischer Flüchtling war bei dem Versuch, den Grenzfluss zwischen der Türkei und Griechenland zu überqueren, ums Leben gekommen. Darauf machte die Familie den von ihr bezahlten Schleuser für den Tod ihres Sohnes verantwortlich und ließ den Mann ermorden.
    Gabor ging ins Bad. Er trank Wasser direkt aus dem Hahn und trocknete sich lange die Hände, während er in übertriebener Klarheit wieder das Gesicht des Mannes sah: die Bögen der Brauen, die zwei senkrechten Falten in der Stirn und die Augen, von der Wut wie von einer Klammer zusammengeschoben. Und nun sah er auch das Hämatom unterhalb des Auges und einen Riss in der Wange und erinnerte sich wieder an die violett verfärbte, geschwollene Lippe des Mannes. Er war geschlagen worden. Und jetzt fiel Gabor ein, dass er in dem Sekundenbruchteil, bevor Gabor ihn erkannte, erschrocken gedacht hatte: Was haben sie mit dem denn gemacht?
    Er saß am Schreibtisch, tippte Misshandlung , Flüchtling , Rache ins Suchfeld, als wäre der zu seinen Befürchtungen passende, der seinen Ängsten entsprechende Fall in den Tiefen des Netzes schon gespeichert, vorgelebt von einem unbekannten Doppelgänger. Zitternd hing sein Mittelfinger über der Return-Taste. Als kaltes Prickeln in den Fingerspitzen ahnte er die möglichen Konsequenzen seiner Anfrage, löschte die Wörter, erleichtert, als wäre er vom Rand eines Abgrunds zurückgetreten.
    Als seine Tochter eine halbe Stunde später an seinem Zimmer vorbeischlich, rief er: »Nele, komm doch mal kurz.«
    Sie stöhnte, lehnte sich aber gelangweilt in den Türrahmen. Sie trug ein T-Shirt und schwarze Hochwasserhosen. Ihre Fußnägel waren lila lackiert. Es kam ihm vor, als wäre sie wieder ein Stück gewachsen. Er wies auf die Armlehne des Schreibtischstuhls, damit sie sich zu ihm setzte wie früher, aber sie blieb, wo sie war, und ließ den Blick wandern.
    »Sag mal, rauchst du?« Sie schwieg. Er sah die Kindlichkeit in ihren Zügen, ihren Widerwillen, während ihre Wangen rot aufleuchteten.
    »Wir haben dir immer viele Freiheiten gelassen, weil wir dachten, dass du weißt, wo die Grenzen sind.«
    »Deshalb regst du dich auf?« Sie lachte. »Sei doch froh. Weißt du, was die anderen nehmen?« Ohne etwas zu erwidern, stand Gabor auf und ging zum Bücherregal. »Jetzt zeigst du mir Bilder von zerfressenen Lungen, oder? Von Raucherbeinen, die amputiert werden müssen. Zeigst du die Mama eigentlich auch?« Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie ließ ihn nicht sprechen. »Du hast keine Ahnung. Du verstehst nichts.«
    Im nächsten Moment rannte sie in ihr Zimmer und schlug die Tür zu. Er ging ihr hinterher, stand da, die Hand auf der Klinke.
    »Nele –«
    »Was ist passiert?« Berit stand unten an der Treppe und blickte hoch.
    »Nichts. Ich weiß nicht.«
    »Ist Malte aufgewacht?«
    »Nein«, sagte er gereizt. »Ist er nicht.« Einen Moment lang warteten sie beide unschlüssig, sie unten, er oben.
    »Nele?«, sagte er wieder, aber es kam keine Antwort. Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich zurück an den Schreibtisch. Er hörte Berits Schritte auf der Treppe, hörte sie an seinem Zimmer vorübergehen und an Neles Tür klopfen.
    »Nele. Schätzchen. Alles in Ordnung? Darf ich?«
    »Darfst du nicht!« Neles Stimme klang gedämpft. Wieder Stille. Dann spürte er Berits Blick in seinem Rücken, drehte sich aber erst um, als sie fragte: »Was ist denn los?«
    Sie wirkte müde, als wäre sie vor dem Fernseher eingeschlafen und von Neles Schrei geweckt worden.
    »Nichts«, sagte er. »Ich habe sie aufs Rauchen angesprochen.«
    »Was hast du ihr denn gesagt? Zum Rauchen.« Die Pause, die Art, in der sie Sekunden verstreichen ließ, bevor sie mit süßem Lächeln »zum Rauchen« sagte. Er atmete geräuschvoll aus.
    »Nichts Besonderes. Ich habe gesagt –« Er unterbrach sich. »Warum guckst du mich so an?«
    »Ich dich?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Von mir hat sie die Zigaretten jedenfalls nicht, falls es das ist, was du andeuten willst.«
    Am nächsten Tag kam er spät nach Hause. Berit saß vor dem Fernseher, aber sie wirkte so verärgert, als blickte sie nicht auf den Bildschirm, sondern durch ihn hindurch.
    »Willst du Wein?«, sagte sie und schaltete das Gerät aus.
    »Nein«, log er.
    »Ich habe mit Nele gesprochen. Sie

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