Gesichter: Roman (German Edition)
die bekannte Person tritt aus der Menge hervor. Als trüge jeder, verborgen in seinen veränderbaren Zügen, sein persönliches Urgesicht mit sich herum, eine Matrix aus Winkeln, Abständen und Proportionen, eine rätselhafte Mischung aus signifikanten Merkmalen, ihren Verhältnissen und einem damit verbundenen Ausdruck, dem die Stürme der Zeit nichts anhaben können.
Gabor saß in der Klinik, weil er zu Hause nicht die nötige Ruhe fand, aber ihm fehlte das zündende Bild. Es war nach neun, die blaue Stunde des Kliniktages. Er mochte diesen Übergang, die Distanz zwischen Patienten und Ärzten schmolz, und das Gefühl, gemeinsam in einer schwebenden Kapsel eingeschlossen zu sein, weit entfernt von der Wirklichkeit da unten, stiftete eine Verbundenheit, die sich wieder auflöste, sobald es vollständig dunkel geworden war und der Arzt in der Nacht wieder zum Adressaten der Angst wurde, zum Besänftiger der aufsteigenden Panik.
Er blätterte durch Unterlagen, manche noch aus dem Studium, und fand einen frühen Test zur Gesichtserkennung, den sie noch immer benutzten. Männliche kaukasische Gesichter zwischen dreißig und fünfundfünfzig, zu Paaren oder Vierergruppen angeordnet. Einige erschienen nur ein einziges Mal, doch die, auf die es ankam, in immer neuen Konstellationen. Auffällige Gesichter zu Beginn, mit ausgeprägten Nasen oder Brauen, eng stehenden Augen oder einem scharf geschnittenen Wangenbogen, doch mit höher werdendem Schwierigkeitsgrad wurden die Formen gleichmäßiger. Im dritten Testabschnitt trugen alle Männer Jackett, Hemd und Krawatte und wirkten so nichtssagend freundlich, als säßen sie hinter dem Schreibtisch einer Versicherung oder dem Schalter einer Bank, unauffällig, nahezu austauschbar, aber noch immer von jedem Menschen mit intakter Gesichtserkennung problemlos von den anderen zu unterscheiden. Dieses feine Sensorium, diese Verschränkung von Wahrnehmungs- und Abgleichleistung kam ihm selbst heute noch wie ein wunderbares Rätsel vor, dessen Lösung sich jedes Mal weiter zu entziehen schien, desto genauer sie den Ort der Repräsentanz im Gehirn lokalisieren und die Pfade der Reizübertragung verfolgen konnten.
Als er sich für Gesichtserkennung und Prosopagnosie zu interessieren begann, war auch Berit davon fasziniert. Für sie bildete das Gesicht die Schnittmenge ihrer beruflichen Leidenschaften, den Bereich, an dem sich ihr kunsthistorischer und sein medizinischer Blick trafen. Sie schenkte ihm einen Bildband von Arcimboldo, sie besuchten Ausstellungen über das Porträt in der Renaissance. Es geschah wie von allein, sie sahen anders, achteten, reagierten auf Details. »Hast du den gesehen? Die Augenpartie wie dieser Schauspieler«, sagte Berit auf der Straße plötzlich. Doch als sie gemeinsam ein interdisziplinäres Symposion besuchten, bei dem Kunsthistoriker, Mediziner und Informatiker sich im Seminarraum einer Dahlemer Villa drängten, um sich über die »Auflösung des Gesichts« auszutauschen, klafften die Unterschiede ihrer Wahrnehmung auseinander. Während Berit interessiert Vorträge über »Die Maske bei Kafka« oder »Das zerfließende Antlitz bei Francis Bacon« verfolgte, wuchs in ihm der Groll gegen das Gerede über das Wechselspiel von Innen und Außen, auf die selbstverliebte Lust, mit der man sich dem Abseitigen und Exzentrischen verschrieb, den er nur mit Mühe nicht gegen Berit richtete. Seine Laune hob sich erst, als ein Gesichtschirurg aus München an die Reihe kam und den um Worte nie verlegenen Geisteswissenschaftlern mit subtiler Schadenfreude demonstrierte, was Mediziner unter in Auflösung begriffenen Gesichtern verstanden. Er warf Bilder von Menschen an die Wand, denen der Krebs Nase und Wangen weggefressen hatte, blutige Fleischlandschaften, in denen Röhrchen steckten, durch die die Folter- oder Unfallopfer mit Mühe noch atmen konnten. Er zeigte Menschen mit Elefantitis, denen das Gesicht in Lappen vom Schädel floss, und säureverätzte Hautpartien, deren verästelte Narben wie Spinnennetze die relevanten Merkmale überwucherten, und verdarb damit allen Anwesenden fürs Erste den Spaß am Bizarren. Auf der kurzen Rückfahrt schwieg Berit verärgert, als hätte Gabor den Kollegen höchstpersönlich eingeladen, um ihr ein für alle Mal vor Augen zu führen, welche Beschäftigung von Relevanz und was ein netter Vormittagsvertreib für die studierte Hausfrau sei.
Er liebte die griechischen Plastiken, die italienischen Porträts blasser Damen oder die
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