Gesichter: Roman (German Edition)
aufwendige sensorische Testung durchführen, auf die sie, das hatte er an ihren listigen Nachfragen gemerkt, ohnehin spekulierte.
Sein Herz hämmerte noch immer. Durchs gekippte Fenster pfiff der Wind, aber das Meer der grünen Wipfel tief unter ihm schien unbewegt, aus aufgeschäumtem Kunststoff. Er teilte der Stationsschwester mit, dass er kurzfristig wegmüsse. Erst jetzt, nachdem er beschlossen hatte, nach Hause zu fahren, beruhigte sich sein Herz.
Ihre Gasse lag verlassen im mittäglichen Herbstlicht, die meisten Parkbuchten waren leer. Auch Berits Wagen fehlte. Er rollte die letzten Meter im leisen Knirschen der Reifen bis vor ihr Haus. Das Fenster zum Bad im ersten Stock stand offen, sonst war alles wie immer.
Das Parkett im Windfang, der Haufen Kinderschuhe, der sich in seine Wahrnehmung schob wie der vertraute Geruch nach Holz und alten Räumen, als er die Haustür öffnete. Er erkannte seine Schrift sofort, die geraden, etwas zu fest in den Karton gedrückten Striche, aber er war zu spät gekommen. Berit hatte die Postkarte schon gesehen und mit den anderen Umschlägen auf den Hocker neben der Tür gelegt. Gabor blieb einen Moment stehen, als würde die Karte ihm den Weg ins Haus versperren. Er sah den Poststempel auf der Marke, versuchte ihn im Stehen zu entziffern, aber es gelang nicht sofort. Berlin. Er trug die Karte in die Küche und legte sie auf den Tisch. Er ließ Wasser in den Kocher laufen und hängte einen Teebeutel in eine Tasse. Während das Wasser erhitzt wurde, ging er ins Bad und schloss das Fenster. Wieder unten, goss er den Tee auf und las im Stehen den Text, den er vor drei oder vier Wochen für Berit geschrieben hatte.
Er trägt eine Brille mit schwarzem Rand, das Haar im Nacken ausrasiert und auf dem Kopf zur Seite gegelt. Fünfzehn, vielleicht sechzehn. Sucht Tintenfische, die sich in Nischen an der Wand verstecken. Seine Schlaksigkeit erinnert mich an Nele, seine ungeteilte Aufmerksamkeit weniger. Es ist jetzt Viertel nach sieben. Liebe. G.
Er ließ die Karte liegen und ging auf die Terrasse. Er nahm einen Stuhl, trug ihn zum Ende des Gartens, setzte sich und blickte auf die Rückwand ihres Hauses. Er sah die Kräutertöpfe auf dem Brett des Küchenfensters, das mit den Sommern grau gewordene aufgespannte Segeltuch über dem Gartentisch und die grifflosen Unterschränke der Küche durch die offene Tür und einen Ausschnitt der Tischplatte, auf der die Karte lag. Er starrte auf die Rückseite seines Hauses wie auf ein Bühnenbild, in dem jeden Moment die Vorstellung beginnt. Er dachte an seinen Vater, der allein in einem Hochhaus am Stadtrand lebte, zwischen unzähligen, vom Einsturz bedrohten Zeitungstürmen, und sich aus Scham für seine Unordnung nur in einem Café treffen wollte, wenn Gabor einmal im Jahr mit Berit und den Kindern nach Bielefeld kam. Er musste an Overkamp denken, an den ausgestreckten Finger, der auf das Himbeergelee zeigte, den Ekel in seiner Stimme, als er fragte: Schmeckt der so, wie er aussieht? Er dachte an den Mann von der Fähre, immer wieder versuchte er, sich sein Gesicht zu vergegenwärtigen, aber es gelang ihm nicht mehr, als wäre er mittlerweile so nah gekommen, dass er ihn nicht mehr erkennen konnte. Als säße er in den Wipfeln der Bäume vor dem Haus, im Zittern unter seiner Haut.
Niemandem fiel etwas auf, niemand merkte Gabor an, dass er, während er zuhörte oder Fragen stellte, sein Gegenüber taxierte und nach vertrauten Formen suchte. Mit fotografischer Genauigkeit erinnerte er sich an das, was auf dem Parkdeck geschehen war, sah die weiße Tüte auf dem Eisenboden, hörte das Schnaufen und spürte noch die Kraft in den Armen, die ihn hochgerissen hatten, roch sogar die stechende Mischung aus Schweiß und lange getragener Kleidung. Aber das Gesicht schien aus seinem Gedächtnis gelöscht, was – sobald er es vergeblich zu rekonstruieren suchte – Schübe kalter Panik durch seine Brust jagte.
Nur Lavinia fragte. Als sie in sein Zimmer kam, sagte sie überrascht:
»Geht’s Ihnen nicht gut?«
»Doch. Danke der Nachfrage. Was gibt’s denn?«
»Sieverth. Er weigert sich, die Übungen mit dem Eyetracker fortzuführen.«
»Sagen Sie ihm, dass der Schwindel vorübergeht. Wenn er weitermacht. Und wenn nicht, kann er später immer noch abbrechen.«
»Er will Sie sprechen.«
Gabor hob die Hände zum Zeichen seiner Nichtzuständigkeit.
»Sieverth ist mir scheißegal«, sagte er.
»Soll ich ihm das sagen?«
»Sagen Sie ihm, was Sie
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