Gesichter: Roman (German Edition)
ohrenbetäubendem Geschrei den Himmel verdunkeln und Schaulustige das Spektakel vom Straßenrand aus durch Feldstecher verfolgen. Die ersten Vögel flogen schon so niedrig, dass er das helle Rosa ihrer Beine erkennen konnte, die wie Stöcke von den grauen Körpern baumelten, während sie sich mit dem schwerfälligen Schlag der Langstreckenflieger durch die Luft wühlten.
»Malte.« Er griff zwischen den Sitzen hindurch nach dem Knie seines Sohnes. »Malte, wach auf. Die Kraniche kommen!«
Er fühlte sich wie betrunken, als er aus dem Speisesaal nach draußen trat. Die ehrfürchtige Stille, in der die Menschenmenge in dem Aussichtsturm am Rande des Moores die Ankunft der Vögel verfolgt hatte, die Wanderung zurück, vorbei an Birken, deren weiße Stämme in der Abenddämmerung wie verkohlt aussahen, schließlich das Essen vor dem behaglich prasselnden Kaminfeuer. Er rief Berit an, aber sie ging nicht ran, und er war nicht in der Stimmung, eine Nachricht zu hinterlassen. Es war kalt. Er ging zum Ende der Steinplatten, wo der Rasen bis zu einem Bach abfiel, hinter dem sich urwaldgroße Platanen erhoben. Die Hände tief in den Hosentaschen, versuchte er zu sehen, was Berit sehen würde, wenn sie hier wäre: die Weite des nachtblauen Himmels, an dem die Sterne wie Nadelspitzen funkelten, die zurückweichende Wand des Waldes. Er sog die herbstliche Würze mit kurzen Atemzügen ein, als säße ihre Lunge in seiner Brust, glaubte ihr Glück zu empfinden, ein aufwühlendes, schwindelerregendes, aufplatzendes Glück, ein emotionaler Überschuss, der nun durch seine Adern strömte und sich in seinen Eingeweiden mit seiner Zufriedenheit zu einem Magma mischte, der rätselhaften Substanz ihres Wir. Seine Angst vor diesem Mann schien ihm auf einmal absurd, lächerlich. Was könnte eigentlich passieren? Gabor schaute lächelnd die bunt beleuchtete Fassade des Herrenhauses hinauf, dann ging er wieder hinein und griff nach einer herumliegenden Zeitschrift, während zwei Stockwerke über ihm, in einem Erkerzimmer namens Yorkshire, Nele ihren kleinen Bruder in den Schlaf sang.
Von einer Tischgesellschaft im benachbarten Restaurant drang lautes Lachen, und es dauerte, bis ihm bewusst wurde, dass ihn die Stimme einer Frau an die seiner Mutter erinnerte. Er spürte wieder den Blick, den ungewöhnlichen Blick seiner Mutter, als sie zu ihm gesagt hatte: »Ich weiß, dass du mich nicht verstehen kannst.« Aber er hatte sie verstanden, auf eine intuitive Weise, die genauso unerklärlich war wie das, was sie getan hatte. Er hatte sie verstanden, obwohl sie mit dem Tag, an dem sie seinen Vater und ihn verlassen hatte, aufgehört hatte, seine Mutter zu sein. Sie war mit einem quirligen, stiernackigen Mann zusammengezogen, der angeblich mal für Osnabrück in der zweiten Liga gespielt hatte und eine Cafeteria in einer Seitengasse der städtischen Fußgängerzone betrieb. Bei einem ihrer späteren Besuche hatte sie sich rechtfertigen und erklären wollen, aber Gabor hatte nur »Sei still« gesagt. Sie sollte ihn nur ansehen, auf diese unbeschreibliche Art. Ihr Blick sah in ihm schon den Mann, der er in wenigen Jahren sein würde, er appellierte an sein zukünftiges Verständnis, vermittelte ihm schon etwas von einer Erfahrung, die er später erst würde begreifen können. Sie stieß ihn in die Freiheit, gab ihm ein Wissen mit, das ihn begleitete, das ihn schützte wie die letzten Worte einer Sterbenden.
Gabor trat in die offene Tür des Restaurants. Bis auf die Gesellschaft in der Mitte waren alle Gäste gegangen. Es lief Tangomusik, und alle, die am Tisch saßen, beobachteten ein tanzendes Paar. Er stand da, während die Angst wieder von ihm Besitz ergriff. Er ging durch die Bibliothek und am menschenleeren Empfang vorüber, hinter dem die Treppen nach oben führten. Er nahm drei Stufen mit jedem Schritt, rannte durch mit Teppich ausgelegte Flure und hielt erst vor der Tür ihres Zimmers, um seinen Atem zu beruhigen. Es war nichts zu hören. Er drehte am Türknauf. Maltes Bett im Vorraum war leer. Er ging weiter ins große Zimmer – und da lagen seine Kinder, schlafend, Nase an Nase, auf dem hinteren Einzelbett, Maltes Hand auf dem Arm seiner Schwester. Nele trug noch den dicken Pullover und ihre Stiefel, deren erdverkrustete Sohlen über den Rand der Matratze ragten. Eine Weile betrachtete er sie. Er öffnete vorsichtig den Reißverschluss am Schaft, griff Neles Stiefel an der Ferse und versuchte, ihn ihr vorsichtig vom Fuß zu ziehen, als
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