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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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Silbertabletts gereicht hatte. Fünf Jahre lang waren die Räume und die Sitzgarnituren von untersetzten Männern und den dazugehörigen Frauen bevölkert gewesen, doch dann hatte der Wind sich gedreht und bei der nächsten Kommunalwahl war sein Vater von einem sozialdemokratischen Fleischermeister aus dem Rathaus gejagt worden. Seitdem geisterte er durchs Haus und sprach mit Gabor nur noch, als hätte er getrunken, rief plötzlich: »Der Geist weht, wo er will!«, oder: »Guter Mann, nur in der falschen Partei!« Gabor hatte den um Entschuldigung bettelnden Blick gehasst, die trübe Ironie, die Jovialität, die zwischen ihnen eine Gemeinschaft der Opfer stiften sollte. Er hatte seinen Vater dafür gehasst, dass er Gabor gezwungen hatte, ihn zu verachten. Damals hatte sich, wie ein Schneeball, den man mit wenigen Griffen aus einem flockigen Nichts zur steinharten Kugel presst, sein Entschluss geformt, Medizin zu studieren, obwohl seine Noten nicht dazu einluden. Im Gegensatz zur Ohnmacht des Politikers, zu seiner Gefallsucht und Abhängigkeit von den Launen der Wähler und dem Wohlwollen der Parteigenossen hatte sich Gabor die Tätigkeit eines Arztes als unabhängig und solide vorgestellt. Die Hilfe eines Arztes war nicht zu leugnen, von welcher Seite man sie auch betrachtete. Eine Laune des Schicksals, dass Gabor zwei Jahrzehnte später in einem Zimmer Nervenleitgeschwindigkeiten kontrollierte oder Arztberichte korrigierte, von dem aus man den hinteren Teil des Kanzleramtes einsehen konnte. Beim ersten und einzigen Besuch seines Vaters in der Klinik hatte Gabor auf eine Bemerkung, auf einen bitteren Kommentar gewartet, aber sein Vater hatte die Nähe zum Regierungsviertel nicht angesprochen und beim Blick auf den Tiergarten nur »Schöner Ausblick« gesagt.
    »Wie bitte?«
    Nele blickte ihn an. Die lila Verfärbungen unter ihren Augen ließen sie älter erscheinen als sie war.
    »Ist mal ein Patient gestorben, weil du einen Fehler gemacht hast?«, fragte sie.
    Er überholte einen Traktor, nahm aus dem Augenwinkel einen Mäusebussard auf einer Vogelstange am Straßenrand wahr. »Zum Glück nicht. Aber es sind Patienten gestorben, nach deren Tod ich mich gefragt habe, ob ich ihn nicht hätte verhindern können.« Er versuchte zu lächeln. »Eine Frau bekam plötzlich Kammerflimmern, während sie nach einem Schlaganfall auf dem Schlitten des MRT lag. Als wir reagierten, war sie schon blau angelaufen. Wir haben versucht, sie wiederzubeleben, was uns vielleicht gelungen wäre, wenn wir sie vor der Untersuchung an die Überwachungsmonitore angeschlossen hätten.«
    Nele blickte auf die Straße.
    »Und dann?«
    »Was?«
    »Denkst du lange darüber nach?«
    »Das geht gar nicht. Am nächsten Tag liegen andere Patienten im Zimmer.«
    »Du kannst es einfach vergessen?« Sie sah ihn an wie damals, während er ihre Klasse durch die Station geführt hatte, nicht wie einen nervenden Vater, sondern wie jemanden, dessen Erfahrung sie tatsächlich interessierte.
    »Ich kann eine Nacht nicht schlafen. Ich liege wach und gehe alles noch einmal durch. Ich versuche den Moment zu finden, an dem ich hätte anders reagieren können, und wenn ich ihn gefunden habe, nehme ich mir vor, das nächste Mal aufmerksamer zu sein.«
    »Und dann vergisst du es?«
    »Zumindest denke ich nicht mehr dran.«
    »Sagst du es Mama?«
    »Du willst es aber genau wissen.«
    »Ja.«
    »Nicht immer. Mama glaubt dann, sie müsste mich beruhigen oder trösten, mit der Folge, dass mich die Sache viel länger beschäftigt als nötig. Aber manche Dinge werden leichter, wenn man nicht über sie redet.«
    Eine Weile fuhren sie schweigend.
    »Wie heißt das noch mal, wenn Menschen keine Gesichter wiedererkennen?«
    »Prosopagnosie«, antwortete er, ohne sich seine Enttäuschung anmerken zu lassen, dass sie die Bezeichnung vergessen hatte.
    »Und das Gegenteil? Wenn man immer und überall das gleiche Gesicht sieht?«
    »Immer und überall?«
    Nele presste die Lippen zusammen.
    »Verliebtsein? Ich fürchte, dafür gibt’s keinen anderen Namen. Da!«, rief er plötzlich, von seiner eigenen Stimme überrascht: Eine Kranichformation, ein asymmetrisches, sich permanent verschiebendes V, näherte sich vor einem rötlich verfärbten Himmel den Sumpfgebieten. Begleitet von einem euphorischen Ziehen in der Magengegend, sah er auch die anderen, Dutzende Schwärme, die wie kleine schwarze Pfeile über die Ebene zogen. In weniger als einer Stunde würden Tausende Kraniche mit

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