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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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Selbstgespräche!« Gabor entspannte seine Schultern, lockerte die ums Lenkrad gekrampften Finger, endlich fuhr der Wagen an ihnen vorüber, und als Gabor darin ein junges streitendes Paar sah, das sich nicht um ihn kümmerte, fiel die Angst von ihm ab.
    »Mein Gott, schaut euch diese Farben an«, rief er. In Dutzenden Gelb- und Rottönen leuchteten die Laubwälder rechts und links der Autobahn. Abgeerntete Maisfelder und umgepflügte Äcker, dazwischen die Kirchtürme der Backsteindörfer wie auf einer Stimmung von Feininger. Er bekam Luft, er konnte wieder atmen, sah die Häuser mit den schlichten Giebeldächern, die gewundenen Feldwege und die Bäume mit den gierig in die Luft ausgreifenden Ästen wie zum ersten Mal.
    Als sie auf das holprige Kopfsteinpflaster des Reiterhofes rollten, war auch Neles schlechte Laune verflogen. Sie sprang aus dem Wagen, lief mit Malte zu den Ställen, kam zehn Minuten später auf dem Rücken einer majestätischen Stute wieder und erklärte ihrem aufgeregten kleinen Bruder vor sich die Handhabung der Zügel und wie man beruhigend zu dem Tier spricht. Doch als sie mit ihm ausreiten wollte, auf dem Weg an den Feldern entlang, zappelte Malte vor Angst, schrie »Nein!«, und sie ließ ihn vorsichtig in Gabors Arme gleiten.
    »Ich kann reiten!«, rief er, sofort wieder übermütig. Zusammen blickten sie ihr nach. Auf der Wiese begann das Pferd zu traben, Nele hob sich aus dem Sattel, beugte sich vor. Sie legte ihre Wange an den Hals des Tieres, schien ihm etwas einzuflüstern, während sie davonpreschten.
    Sie aßen in einem Restaurant inmitten eines lang gestreckten Sees. Er ließ das Auto an der Anlegestelle, sie bestiegen eines der bereitliegenden Boote, und er ruderte sie zu der winzigen Insel, auf der sich nichts als eine Kiefernschonung und der Gasthof mit reetgedecktem Dach und einer weit über das braune Wasser reichenden Terrasse befanden. Sie saßen als Einzige draußen unter einem knackenden Heizpilz. Malte verzehrte in Zeitlupe Bratkartoffeln, staunte mit offenem Mund über die Schwäne im raschelnden Schilf. Nele hielt ihr Gesicht in die Nachmittagssonne, ihre Stirn war glatt, als wäre jegliches Grübeln dahinter zur Ruhe gekommen. Gabor hörte nur den Wind und das Stimmengewirr aus dem Inneren des Lokals. Vor dem geschlossenen Strandbad am gegenüberliegenden Ufer ragte der Sprungturm wie ein kubistisches Ungeheuer aus dem See. Alles, was er seinen Kindern geben konnte, ging wortlos auf sie über, schien sich ihnen in diesem Moment von allein zu übermitteln.
    Während sie danach auf einer baumgesäumten Allee Richtung Kremmen fuhren, fragte Nele plötzlich: »Machen Ärzte oft Fehler?«
    »Natürlich«, sagte er. »Aber die meisten haben glücklicherweise keine gravierenden Folgen und lassen sich rückgängig machen. Dann nennt man sie Entscheidungen, die man korrigiert.«
    Er blickte sie an, gespannt darauf, was sie als Nächstes fragte, aber Nele nickte leicht, die Hände im Schoß fest um den iPod gelegt, und schwieg. Eschen, Ahornbäume und der springende Hirsch eines Vorsicht-Wild-Schildes wischten an ihnen vorüber. Mitten im Acker ein Hochsitz, schief, wie vom Wind über die Jahre zur Seite gedrückt. Gabor dachte an seinen Vater, der in der Zeit nach der Trennung oft auf der Couch im Wohnzimmer gelegen hatte, wenn Gabor von der Schule gekommen war. Er lagerte im eisig kalten Wohnzimmer und starrte in den Garten und sagte kein Wort, während Gabor über die Zeitungen und Zeitschriften stieg und die Schiebetür schloss, was an der niedrigen Temperatur im Haus auch nicht viel änderte. Die Heizkosten des Bungalows waren nie Thema gewesen, solange seine Mutter noch bei ihnen gewohnt hatte und sein Vater als Bürgermeister ihrer niedersächsischen Kleinstadt großzügig entlohnt worden war. Doch jetzt, nachdem Gabors Mutter ausgezogen war und sein Vater wieder als Prokurist im Amt für Verbraucherschutz arbeiten musste, wuchsen sie sich zum größten Problem aus. Aus Geldnot oder um ihr gemeinsam geführtes Gesellschaftsleben nachträglich zu verhöhnen, heizte sein Vater nur noch drei der sechs Räume und achtete penibel darauf, dass selbst in diesem häuslichen Rumpfbereich die Temperatur nicht die sechzehn Grad überschritt. Fünf lange Jahre mit Sonntagsempfängen und Sektfrühstücken, bei denen seine Mutter auf hohen Absätzen durch den hallenden Eingangsbereich mit den Wandteppichen in Rothko-Rot und das lichtdurchflutete Esszimmer gestöckelt und Häppchen auf

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