Gesichter: Roman (German Edition)
neuesten 3-D-Scanner. Wir würden sagen: Sie sind gesichtsblind.«
»Tatsächlich«, sagte der Herzspezialist, offenbar wirklich überrascht.
Gabor wollte die Hand aus seiner Pranke ziehen, aber Meyer ließ ihn nicht. »Sagen Sie mal: Ich habe gelesen, dass Ihre Gesichtsblindheit in vielen Ländern gar nicht anerkannt ist. Als eigenständiges Krankheitsbild. Viele Ärzte halten sie für eine Begleiterkrankung von Autismus.«
Gabor konnte nicht antworten. Er sah sich selbst im matten Grau des Fahrstuhls und erinnerte sich mit Wucht an die Verzweiflung in Neles Stimme. Papa, kannst du bitte kommen? Er trat von einem Bein aufs andere. »Ah. Entschuldigung, Sie müssen los.« Meyer schaute erstaunt auf seine Finger hinunter, aus der Gabors Hand wie ein lebloser Gegenstand rutschte, nachdem er seinen Griff gelockert hatte.
Als er ins Foyer kam, war Nele nirgends zu sehen. Der Eingangsbereich war voller Menschen, die hoch auf die Stationstafel blickten oder auf den Plastikstühlen an der Wand auf jemanden warteten oder einfach hin und her liefen, nur Nele konnte er nicht entdecken. Er ging in die Cafeteria. Er lief nach draußen, wo zwei Pfleger im Windschatten einer Betonsäule rauchten, und fragte, ob sie ein Mädchen gesehen hätten. Er rannte wieder rein und fragte den Mann am Empfang.
»Meinen Sie das Mädchen auf der Heizung?«
»Wo?« Erleichterung durchströmte ihn, eine irrwitzige Freude, während er den Kopf herumriss.
»Dunkle Haare, schlank, Jeansjacke?« Gabor ließ den Blick suchend über die kniehohen Heizungen gleiten. »War eben noch da. Hat geweint. Deshalb ist sie mir auch aufgefallen. Ich wollte schon zu ihr und fragen, ob ich helfen kann. Aber dann hat sich ein Mann neben sie gesetzt.«
»Was für ein Mann? Wie sah er aus? Wie alt war er?«
»Keine Ahnung. Fünfundzwanzig, dreißig vielleicht. Auch dunkle Haare. Ich dachte, die Kleine ist versorgt, und als ich das nächste Mal schaute, waren sie weg.«
»Wann? Wann genau sind sie gegangen?«
Der Mann hob die Schultern.
Gabor rannte nach draußen und fragte einen Taxifahrer. Der Mann trat erst seine Zigarette aus, bevor er den Kopf schüttelte.
Gabor sah die Rampe hinunter zur Hauptstraße, die medizinischen Buchläden im flachen Bau auf der anderen Seite, Ärzte, die in flatternden Kittelschößen die Straße überquerten, ein Auto scherte langsam in die Einfahrt zur Notaufnahme ein, während er sein Telefon ans Ohr drückte. Doch Nele ging nicht ran. Stattdessen hörte er ihre gut gelaunte Stimme sagen: »Freue mich über Nachrichten.« So ruhig er konnte, sprach er: »Ich bin jetzt unten. Wo bist du? Ruf mich zurück.«
Er kontrollierte alle Toiletten im Erdgeschoss und schaute noch einmal in der Cafeteria nach. Er fuhr wieder in die Neurologie, weil er plötzlich davon überzeugt war, dass sie in seinem Büro auf ihn wartete, aber auch dort war sie nicht. Als er erneut vor den Fahrstühlen stand, beruhigte ihn die Wiederholung, der gleiche Ablauf der Vorgänge ließ ihn glauben, dass er noch gar nicht unten gewesen war und dass die letzten Minuten nur in seiner Einbildung stattgefunden hatten, doch dann fielen ihm die Worte des Pförtners ein: Fünfundzwanzig, dreißig. Dunkle Haare . Er hatte plötzlich den stechenden Geruch nach Schweiß und verdreckter Kleidung in der Nase, spürte die wuchtigen Tritte gegen die Tür. Er lehnte sich gegen die Wand, alles begann sich zu drehen.
Nele blieb verschwunden. Sie meldete sich nicht, sie ging nicht ans Telefon, und niemand, dem er in den Läden und Geschäften der näheren Umgebung das Foto auf seinem Mobiltelefon entgegenhielt, hatte das hübsche braunhaarige Mädchen mit dem frechen Lächeln gesehen. Zurück in seinem Zimmer, saß er einfach nur da und versuchte, sich jedes Detail des kurzen Telefonats mit ihr zu vergegenwärtigen. Ihr Wimmern, die fast geflüsterte Frage: Bitte, kannst du kommen? Verriet die Färbung ihrer Stimme, ob sie auf der Flucht war? Hatte er etwas überhört, ein Geräusch im Hintergrund? Nele war eingeschnappt, redete er sich ein, beleidigt, dass er sie hatte warten lassen, und bestrafte ihn jetzt, indem sie auf seine Anrufe nicht reagierte. Er glaubte es selbst nicht. Sie war in all den Jahren nie überraschend in der Klinik erschienen, schon gar nicht während der Unterrichtszeit.
Endlich rief er Berit an, die zu Hause arbeitete.
»Ist Nele bei dir?«
»Ist sie nicht in der Schule?«
Gabor berichtete von Neles Anruf aus dem Foyer. Er zögerte einen Moment,
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