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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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sie aufschreckte und kreischend nach ihm zu treten begann.
    »Hör auf. Hör doch auf«, schrie sie und rammte ihren Absatz mit Wucht gegen seinen Oberschenkel. Er hielt ihre Ferse fest.
    »Ich bin’s doch.«
    Ihre Arme, ihr ganzer Oberkörper zitterte. Schnaufend starrte sie ihn an. Malte war aufgewacht, klammerte sich erschrocken an seine Schwester und wimmerte wie im Traum.
    »Schlaft weiter. Alles ist gut«, flüsterte er mehrmals.
    Tuschelnd kamen sie am Morgen in den Frühstücksraum, wo er schon seit acht in den Sonntagszeitungen las. Als sie saßen, erkannte Gabor den Auslöser des Gekichers. Nele hatte Maltes Fingernägel lila lackiert wie ihre eigenen.
    »Doch!«, rief Malte, bevor Gabor etwas sagen konnte.
    »Auch Jungen dürfen Nagellack!«
    »Natürlich«, sagte Gabor, während er das belustigte Flüstern zur Kenntnis nahm, das Maltes Empörung am Nachbartisch auslöste.
    Die Hälfte des Tages verbrachten sie in einem Wellnesstempel, dessen verglaste Seite auf das graue, aufgewühlte Herbstwasser eines Sees blickte, und obwohl er, während die Kinder durch die Wellen tauchten oder die Rutsche hinunterjagten, die meiste Zeit auf einer Liege hinter der Panoramascheibe gedöst und nur zwei halbherzige Saunagänge absolviert hatte, prickelte auf der Rückfahrt seine Haut und seine Glieder waren angenehm schwer. Als sie sich der Stadtgrenze näherten, machte sich Unruhe in ihm bemerkbar. Er lauerte auf das Wiederaufflammen seiner Angst, aber es geschah nichts. Die Straße hinter ihnen blieb leer. Er nahm die Landstraße, fuhr durch die zersiedelte, mit Windrädern bestückte Öde des Umlands, bis an der Heerstraße die ersten Hochhäuser auftauchten, leuchtende Fenstervierecke in kulissenhaften Fassaden.
    Berit war schon zu Hause und begrüßte sie überschwänglich, als wären sie wochenlang weg gewesen. Sie umarmte Gabor und wich verlegen seinem Blick aus.
    »Lass uns nicht mehr streiten«, flüsterte sie, während die Kinder die Stufen hochtrampelten.
    An diesem Abend lagen sie zusammen, und Berit erzählte, den Kopf auf den Unterarm gestützt, von ihrem Ausflug nach Hildesheim. Die Nonne, das war die Neuigkeit, nahm das Erbe an, aber vorher hatte Berit ihr versprechen müssen, sie weiterhin anzurufen, wenn die Angelegenheit vorüber war. Berit stand auf und öffnete das Fenster und kam mit einer brennenden Zigarette zum Bett zurück. Gabor blickte auf den gläsernen Aschenbecher, an dessen breitem Rand Berit immer wieder die Zigarette abstrich, er sah ihre blauen Augen und das Grübchen in ihrem Kinn, das beim Sprechen verschwand und wieder erschien. Doch er konnte ihr nicht zuhören, denn während Berit von der Frau erzählte, sah er in ihrem Gesicht plötzlich die Züge einer unbekannten alten Dame, die von Faltengittern überzogenen Wangen, die hängenden Augenlider und weichen Lippen, das Antlitz dieser Frau drückte sich durch Berits Gesicht wie durch eine durchsichtige Folie. Er gähnte. Er ließ sich auf den Rücken fallen und rieb mit der Handfläche über seine Augen, als wäre er müde.
    »Scheint dich ja sehr zu interessieren«, sagte Berit.
    »Tut mir leid«, sagte er und tat, als wäre er im nächsten Moment eingeschlafen.

11
    Er hatte sich während des Wochenendes immer wieder gefragt, was die Anhörung für Reaktionen bei seinen Kollegen auslösen würde, hatte sich ihre Betretenheit vorgestellt oder ihr krankhaftes Bemühen, sich nichts anmerken zu lassen, und als er am Montagmorgen zu seinem Zimmer ging, taten tatsächlich alle, denen er begegnete, als wäre nichts gewesen, grüßten wie immer, und er nahm den Umstand als das, was er war: als Einladung, ungestört seiner Arbeit nachzugehen.
    Es gab einen interessanten Neuzugang, einen halbseitig Gelähmten mit einer ungewöhnlichen, wahrscheinlich vorübergehenden Wahrnehmungsanomalie. Der Mann sah, sobald man mit ihm sprach, nur die Mundpartie des Redenden, während der Rest des Gesichts für ihn zu verschwinden schien, wie ein junger Stationsarzt Gabor berichtete. Die Erklärung des Phänomens lag auf der Hand: Die Wahrnehmung des Patienten stand nach dem vorausgegangenen Schlaganfall gewissermaßen unter Schock, registrierte nur den wichtigsten Ausschnitt und übersah den Rest, aber in dieser bizarren Ausprägung war das Phänomen selbst Gabor noch nicht untergekommen.
    »Was sehen Sie genau?«, fragte Gabor. Er stand mit dem jungen Kollegen am Bett und bewegte lautlos die Lippen, um den Effekt aufrechtzuerhalten.
    »Ihre Lippen, die

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