Gesichter: Roman (German Edition)
als müsste er Anlauf nehmen, bevor er ihr auch von dem Mann erzählte, mit dem der Pförtner sie gesehen hatte. Er sprach ruhig, doch er spürte Berits Schrecken, wie seine Angst auf sie überging.
»Wir müssen die Polizei verständigen.«
»Dafür ist es viel zu früh.«
»Aber irgendetwas müssen wir doch tun!«
»Ruf du sie an«, sagte er. »Vielleicht geht sie nicht ans Telefon, wenn sie meine Nummer sieht.«
»Wieso sollte sie so etwas tun?«
»Weil ich sie einige Minuten hab warten lassen.«
»Aber deshalb rennt man doch nicht weg!« An ihrem immer wieder aussetzenden Atem hörte er, wie sie gegen die aufsteigende Panik kämpfte.
»Wahrscheinlich ist sie längst wieder auf dem Weg zur Schule. Sie hat doch ständig Freistunden«, sagte er in einem plötzlich lapidaren Tonfall.
Eine Viertelstunde später berichtete Berit unter Tränen, dass Nele tatsächlich Unterrichtsausfall gehabt hatte. Sie war in der ersten großen Pause weggegangen, aber zur fünften Stunde nicht wiedergekommen. Gabor hatte keine Ahnung, wann die fünfte Stunde begann, aber es beruhigte ihn, an den Rhythmus eines Schultages erinnert zu werden. Mit einem Mal erschien ihm ihre Reaktion absurd. Nele hatte eine Schulstunde verpasst, und sie spielten schon verrückt.
»Ich fahre in die Schule, bleib du zu Hause. Falls sie kommt.«
»Aber warum geht sie nicht ans Telefon? Ich versteh das alles nicht.« Berit sprach mehr mit sich als mit ihm.
»Sie ist vierzehn«, sagte er, als wäre das die Antwort auf all ihre Fragen.
Nele war auch nicht zur letzten Stunde erschienen, und Gabor wartete mit einer Lehrerin vor dem Unterrichtsraum, und als Katharina herauskam, gingen sie zu dritt in einen Musiksaal. Katharina wirkte verstört und setzte sich erst, nachdem die Lehrerin sie ein zweites Mal dazu aufforderte. Sie war kleiner und kräftiger als Nele und ihr Gesicht noch runder geworden, seit Gabor sie das letzte Mal gesehen hatte. Bis vor ein oder zwei Jahren waren sie und Nele die engsten Freundinnen gewesen, aber seit den Sommerferien hatte Nele sie nicht erwähnt. Gabor fragte sich, ob er sie während der Führung durch die Station zusammen gesehen hatte, ob Nele auch mit ihr eingehakt durch die Gänge geschlendert war, konnte sich aber nicht erinnern.
»Hallo, Katharina«, sagte er wieder.
»Hallo, Herr Lorenz.« Sie senkte den Blick, als stünde sie unter Verdacht.
»Du hast ja mitbekommen, dass Nele nicht im Unterricht war. Hat sie mit dir gesprochen, bevor sie heute Morgen gegangen ist?«
»Ist doch nicht schlimm.«
»Was ist nicht schlimm?«
»Dass Nele gegangen ist. Wir hatten Freistunden, weil die Niehoff krank ist.«
»Ist es denn üblich, dass ihr euch, wenn Unterricht ausfällt, auch die Stunden danach spart?«
»Nein«, flüsterte sie.
»Heute Morgen ist sie von der Schule zu mir in die Klinik gefahren und hat mich von unten angerufen, von der Halle, von der ich euch für die Führung abgeholt habe.«
Katharina nickte nur.
»Sie hat geweint und mich gebeten, zu kommen. Aber als ich runterkam, war sie weg und geht seitdem nicht ans Telefon.« Katharinas bleiche Haut glänzte fettig. Sie wirkte verängstigt und trotzig zugleich.
»Weißt du vielleicht, weshalb sie so verzweifelt war?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Hast du mitbekommen, wann sie gegangen ist?«
»Wenn Unterricht ausfällt, gehen wir ins Schülercafé. In der Pause habe ich sie noch gesehen, danach nicht mehr.«
Ihre Stimme klang fast pampig, ein seltsamer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, Ungeduld oder Gleichgültigkeit. Er wartete, dann fragte er: »Ist eigentlich etwas vorgefallen? Ich meine, früher wart ihr doch eng befreundet.«
Katharina antwortete nicht.
Obwohl Gabor davon ausging, dass auch seine nächste Frage das Gespräch nicht weiterbringen würde, sprach er sie aus – nur um seine eigenen Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
»Wir haben das Gefühl, dass Nele sich in den letzten Wochen verändert hat. Wir glauben, dass sie sich in den Sommerferien verliebt hat – und seitdem ist sie anders. Hat sie dir gegenüber mal einen Jungen erwähnt?«
»Nein«, sagte Katharina, lächelte aber.
»Was ist?«
Katharina schüttelte nur den Kopf, Genugtuung im Blick.
Gabor wandte sich an die Lehrerin, aber bevor er etwas sagen konnte, griff die Frau nach Katharinas geschlossener Faust, die unbeweglich auf dem Tisch lag.
»Danke.«
Katharina erhob sich und verließ wortlos den Raum. Die Plastikhüllen der Keyboards
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