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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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und leblos, wie geschnitzt.
    »Berit, bitte, es tut mir leid.«
    »Sag nicht: Es tut mir leid. Nie wieder.«
    Sie ging in die Küche und Gabor hörte, wie sie Wasser in den Kocher laufen ließ. Sie telefonierte. Sie rief bei Frauenärzten an und fragte mit beherrschter Stimme nach einem Mädchen mit halblangem braunem Haar – als ob ein Berliner Frauenarzt solch einen Eingriff an einer Vierzehnjährigen ohne Einwilligung der Eltern vornehmen würde.
    Ewige Minuten saß er auf dem Sofa, Gedanken zogen durch seinen Kopf, schnell und so flüchtig, dass er sie gleich wieder vergaß, während er auf jedes Geräusch von der Straße achtete, um sofort an der Tür zu sein, wenn er Neles vertraute Schritte auf dem Gehweg hörte. Die Worte der Beamtin fielen ihm ein. Wir ziehen größer werdende Kreise. Kollegen durchkämmen die Umgebung des Krankenhauses . Fragen an Lehrer, Mitschüler und Trainer. Alle Institutionen seien bereits informiert, alle Zufluchtsorte in Berlin und Brandenburg. Aber was, dachte er plötzlich, wenn Nele sich noch immer dort aufhielt, von wo sie verschwunden war? Was, wenn dieser ominöse Mann im Krankenhaus nur ein weinendes Mädchen getröstet und zur Notaufnahme begleitet hatte?
    »Ich suche noch einmal in der Klinik«, sagte er, während er sich eine Jacke überwarf.
    Berit blickte nicht einmal auf.
    Als er in der Notaufnahme der Frau hinter der Scheibe sein Telefon mit dem Bild von Nele entgegenhielt, schüttelte sie den Kopf. Gabor fuhr in die Wäscherei, zeigte seinen Ausweis und zog gleich einen frisch gestärkten Kittel an. Er begann im ersten Stock, kontrollierte in der Hals-Nasen-Ohrenabteilung jedes Zimmer. Sein Verhalten war absurd, die Wahrscheinlichkeit, Neles Gesicht zwischen all den bandagierten Patienten in Schlafanzügen zu entdecken, die ihn fragend oder überrascht ansahen, wenn er eine Tür aufriss, ging gegen null, aber er konnte nicht aufhören. Niemand fragte, niemand wollte wissen, was er auf einer Station tat, auf der er nichts verloren hatte. Zwischen dem vierten und dem fünften Stock setzte er sich im Treppenhaus auf eine Stufe. Das Gefühl von Neles Anwesenheit, das ihn in der Tiefgarage hatte Hoffnung schöpfen lassen, war längst verflogen. Es ging nur noch darum, weiterzumachen, nicht in lähmender Untätigkeit zu verharren. Er stand auf, stützte sich gegen das Geländer, als sein Mobiltelefon klingelte.
    »Herr Lorenz. Hier ist Lavinia Seidler.«
    Ihre freundliche Stimme kam aus einer Welt, die er fast vergessen hatte. Sie waren verabredet gewesen, sie hatte ihn wegen Sieverth sprechen wollen. Er hatte der Stationsschwester mitgeteilt, dass er wegen einer privaten Angelegenheit früher gehen musste, aber vergessen, das Treffen mit Lavinia abzusagen.
    »Ich bin schon gegangen«, sagte er dumm.
    »Ich weiß«, antwortete sie freundlich und schwieg. »Ich wollte Ihnen nur sagen, am Freitag, die Anhörung –« Die Anhörung. Seine Bewerbung. Er hatte jeden Gedanken daran vermieden, aber jetzt erleichterte ihn die Erinnerung an den fensterlosen Raum und die harmlose Anspannung des akademischen Rituals sogar. Aufmerksam nahm er die knisternde Stille in sich auf. Nach einer Weile lachte sie amüsiert und sagte: »Natürlich wäre ich gern in Ihrer neuen Arbeitsgruppe dabei, wenn es so weit ist.«
    »Wenn es so weit ist«, wiederholte er. Wahrscheinlich war sie noch auf Station, nur ein paar Stockwerke über ihm, könnte in wenigen Minuten hier sein. Er kniff die Augen zusammen. »Während meines Vortrags«, hörte er sich plötzlich sagen. »Habe ich da etwas Ungewöhnliches gesagt?«
    Sie holte Luft, als wollte sie antworten, schien es sich aber anders zu überlegen.
    »Nichts Ungewöhnlicheres als sonst.«
    »Wo sind Sie?«
    »Wie bitte?«
    Er merkte, dass er geflüstert hatte.
    »Sind Sie noch auf Station?«
    In ihrem Schweigen war etwas, Überraschung und eine tastende, fast erschrockene Vorsicht.
    »Ja«, sagte sie gedehnt. »Ich bin in der Klinik. Warum?«
    Er sprach wie aus einem Versteck heraus.
    »Sie müssen mir einen Gefallen tun. Meine Tochter ist weg, und ich glaube … Könnten Sie durch die Zimmer gehen und nachsehen, ob da ein vierzehnjähriges Mädchen liegt? Braunes Haar. Und ob die Psychiatrische eine anonyme Aufnahme hat? Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich glaube …« Die Sinnlosigkeit seines Unterfangens ließ ihn verstummen.
    »Was heißt, Ihre Tochter ist weg?«
    »Sie ist eben weg!« Er zwang sich zur Ruhe. »Könnten Sie mir diesen

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