Gesichter: Roman (German Edition)
dich an: Rasier dich!«
Warum sollte der Entführer seiner Tochter zu einem Verein für Flüchtlinge gehen oder eine medizinische Anlaufstelle aufsuchen, wo Menschen ohne Bleiberecht anonym behandelt werden? Aber Gabor hatte keine anderen Anhaltspunkte: Die Beratungs- und Zufluchtsstellen waren die Eingänge in die Stadt der Verborgenen, und wenn er ihm näher kommen wollte, spielte es keine Rolle, wo er begann. Er saß im Auto in einer Seitenstraße nördlich der Spree. Später Vormittag, die Straße war gesäumt von mächtigen Ahornbäumen, die die Häuserzeile in zeitlosen Schatten legten. Welkes Laub sammelte sich vor der Tür des »Büros für Menschen ohne Papiere«. In einem der zwei Räume brannte Licht und hinter einem Schreibtisch telefonierte eine Frau. Er wartete, bis sie aufgelegt hatte, dann stieg er aus und betrat das Ladengeschäft. Es war bullig warm. An einem Brett hingen Informationsbroschüren, Flyer für juristische Beratung, Visitenkarten von Anwälten, handgeschriebene Zettel, auf denen Deutschunterricht angeboten wurde.
»Guten Tag«, sagte er.
»Guten Tag.«
Er wollte Zeit gewinnen, ohne zu wissen, warum, griff nach einer Broschüre und legte sie gleich wieder zurück.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau trug einen Pullover aus Angorawolle. Sie hatte schwarzes Haar, fein geschnittene Züge und einen breiten, leicht nach unten geschwungenen Mund. Ihr Blick war neugierig, aufmerksam, sie schaute wie ein Arzt ohne Zeitdruck. Er zögerte einen Moment, dann ging er zu ihrem Schreibtisch und reichte ihr das Phantombild.
»Ich suche diesen Mann. Kennen Sie diesen Mann?«
Sie lachte, während sie das Papier entgegennahm.
»Sind Sie von der Polizei?«
»Nein.«
»Journalist?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie reichte ihm das Papier zurück.
»Ich kenne ihn nicht. Weshalb suchen Sie ihn?«
Gabor stand da, die Hände in den Taschen seines Mantels.
»Meine Tochter ist verschwunden.«
Er war selbst über seine Worte überrascht, doch auf eine irritierende Weise fühlte er sich von ihr verstanden. Sie war es gewohnt, aus wenig viel zu schließen, doch bei ihr schnappten Details nicht zu einem beängstigenden Bild zusammen.
»Ah«, machte sie bedauernd. »Ich kann Ihnen leider nicht helfen.«
Aber sie hatte ihm geholfen! Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das Chaos seiner Empfindungen zur Kenntnis nahm, als wären sie das Normalste der Welt. Weiße Punkte blinkten im Blattwerk der Bäume, als er den Laden verließ. Flüssiges Licht schien in Fäden von den Ästen zu tropfen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass an vielen Stellen die würfelförmigen Steine aus dem Bürgersteig gerissen waren. Er stieg ins Auto und tippte die Adresse einer medizinischen Notfallversorgung in sein Navigationsgerät, einer Anlaufstelle mit Praxisräumen, in denen man sich anonym behandeln lassen konnte, doch während er, die weiß-rot gestreifte Spitze des Fernsehturms im Blick, an einer Baustelle entlangschlich, riss ihn das Telefon aus seinen Hoffnungen.
Berit brachte kein Wort heraus.
»Was?«, schrie er. »Was ist passiert?«
»Es ist wieder eine Postkarte gekommen.«
14
Ein Junge und ein Mädchen, tanzend im Morgengrauen auf dem Hotelrohbau auf der anderen Seite der Bucht. Musik ist nicht zu hören. Das Mädchen: knappe Jeans, Bikini-Oberteil. Der Junge: nackter Oberkörper, hängende Hose. Ihre Bewegungen sind monoton, als hätten sie die Nacht durchgetanzt. Wie alt? Wie viele Sommer Nele voraus? Ich freue mich auf heute. G.
Er wusste, wann er die Karte geschrieben hatte, in den ersten Tagen ihres Urlaubs, als er gegen sechs aufgewacht war und still das Haus verlassen hatte und im Morgengrauen den Berg hinunter gestapft war, um durch die leere Ortschaft zu streunen. Er war der Erste gewesen, als Leonidas die Tür aufschloss, um die Stühle aufzustellen und die taufeuchten Tische abzuwischen. Windstill, das Wasser im Hafenbecken glatt wie ein Spiegel. Er hatte dort gesessen, staunend über das Schauspiel der Bewegungslosigkeit und dieses tanzende Paar hundert Meter Luftlinie entfernt auf der obersten Betonfläche eines Gebäudes, das niemals fertiggestellt werden würde. Sie stießen die Hände in die Luft, den Kopf in den Nacken gelegt. Ein Stammestanz, schwerfällig, müde, aber unbestreitbar ein Ritus zum Beginn, zur Feier eines neuen Lebens.
Die Karte steckte in einem durchsichtigen Plastiktütchen, um die mit schwarzem Rußpulver sichtbar gemachten Fingerabdrücke nicht zu gefährden. Berit, die
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