Gesichter: Roman (German Edition)
denn –«
»Aber er hätte einen Grund. Er hat einen Grund, dir zu schaden. Du hast ihn rausgeschmissen.«
Das Weiß ihrer Augen war trüb wie Elfenbein, ihr Haar verdrückt, wahrscheinlich hatte sie sich stundenlang schlaflos im Bett gewälzt.
»Das glaube ich nicht. Das ist absurd.«
Ihr Blick trieb davon, sprang panisch hin und her, als hätte er sie in die Ecke gedrängt. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, schmeckte seinen eigenen Atem, während er sprach.
»Yann hat damit nichts zu tun. Beruhige dich. Wir können nichts machen, nicht jetzt.«
Im Morgengrauen lag er wach und lauschte auf die Geräusche des Hauses. Die Fassade der Hauensteins gegenüber leuchtete hinter den Bäumen im gelben Licht. Er hörte Schritte auf dem Bürgersteig, eine schlagende Autotür, das Surren des startenden Motors. Gegen sieben kam Berit herunter. Er blieb liegen und verfolgte, wie sie Kaffee kochte, mit knallenden Absätzen in der Küche auf und ab ging.
»Was machen wir jetzt?«, fragte er beim Frühstück. Sie hob den Kopf, sah abwesend an ihm vorbei, das hauchdünn mit Honig bestrichene Toastbrot in der Hand.
»Ich hole Malte bei Rita ab und bringe ihn in den Kindergarten. Dann komme ich wieder und warte auf Nele.« Sie hob gleichgültig die Schultern. »Ich warte darauf, dass meine Tochter zurückkommt.«
Der durchgedrückte Rücken, die Ferne, aus der ihre Stimme kam. Als sie ihn mit verträumtem Bedauern ansah, glaubte er für einen Moment, auch sie sei kurz davor, den Verstand zu verlieren.
Als Berit das Haus verlassen hatte, rief er in der Personalabteilung des Krankenhauses an und meldete sich krank. Er räumte die Küche auf und saß untätig im Wohnzimmer, bis er sich überwand und nach oben ging. Neles Tür war angelehnt. Durch den Spalt sah er ihr leeres Bett und ein Heft auf dem Boden. Er drückte die Tür weiter auf. Er sah das Pferdeposter, das seit kindlicher Urzeit wie vergessen neben dem Foto einer grell geschminkten Sängerin hing. Unter dem Fenster türmte sich ein Kleiderhaufen, als hätte Nele die Sachen beim Durchwühlen des Schranks im hohen Bogen hinter sich geworfen. Auf den Regalen und Tischen lagen großformatige Bilderbücher, Comics, zwei Bände Harry Potter . Auf einem Schränkchen neben ihrem Schreibtisch lehnte ein Spiegel, vor dem sich von Berit geklaute oder geliehene oder selbst gekaufte Schminkstifte, Tuben und Döschen verdoppelten. Alles schon untersucht und für unauffällig befunden. Das Kind, das bockige Mädchen, die selbstbewusste junge Frau – alle Phasen, alle Seiten waren da, sichtbar, erschreckend unverbunden, scharf voneinander getrennt, und der Schock über die Verwirrung, die ihm daraus entgegensprang, presste ihn wie ein Gewicht auf einen Hocker. Er schaute, den Kopf im Nacken, an die ergraute Decke, als wartete er auf Stimmen oder ein Zeichen, als erwartete er einen Wink.
Sie hatten die Vereinbarung getroffen, dass immer jemand zu Hause blieb, und bis Berit wiederkam, suchte er im Internet nach Vereinen, ermittelte Treffpunkte und Anlaufstellen. Er riss das zentrale Stück aus einem Stadtplan und zeichnete Punkte mit einem Kugelschreiber in das Straßennetz. Er legte Neles Foto auf den Tisch und versuchte sie zu sehen, wie er sie nie betrachtet hatte. Der Ausdruck des digitalen Bildes zeigte ein junges Mädchen mit halblangem braunem Haar. Ihre Stirn war eher breit. Ihre Brauen waren klar, wie gezeichnet, zwei gerade Linien, die nicht der Rundung der Augenhöhlen folgten, sondern waagrecht weiterliefen und wie Speerspitzen nach außen zeigten, was ihrem Ausdruck etwas Rätselhaftes und Eigenwilliges gab. Doch so sehr er sich auch mühte, er fand nichts mehr von ihrer Stärke, sah nur die Verletzlichkeit, die Ungeschütztheit seines kleinen Mädchens. Er legte das Phantombild daneben und zwang sich, beide zu betrachten, als zeigte sich auf diese Weise ein geheimnisvoller Zusammenhang, aber etwas in ihm sperrte sich. Ihm wurde übel, und er drehte das Phantombild wieder um.
Als Berit zurückkam und mit Hoffnung im Blick in der Tür des Wohnzimmers stand, schüttelte er den Kopf. Für einen Moment entgleisten ihre Züge vor Schmerz, dann setzte ihr Wille, sich nicht gehen zu lassen, den Raum wieder unter Spannung.
»Malte rechnet. Drei plus sieben, zwanzig minus vier. Die ganze Fahrt zum Kindergarten. Gestern hat der ältere Bruder von Lukas mit ihnen Schule gespielt«, sagte sie. Entgeistert starrte sie ihn an. »Wieso hast du dich nicht rasiert? Ich flehe
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