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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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Schublade lagen und er aus irgendeinem Grund davon ausgegangen war, dass dieser Junge ein Tourist, ein Sommergast und wie sie längst wieder zuhause war.
    Mit zittrigen Fingern blätterte Gabor durch sein Adressbuch.
    »Ich bin’s«, sagte er, als Timothy sich meldete. Er räusperte sich. »Gabor. Aus Berlin.«
    »Ahh«, rief Timothy erfreut. »Ihr seid also doch da. Ich habe Nele im Dorf gesehen, aber weil euer Haus am Abend dunkel blieb, dachte ich, ich hätte mich geirrt. Kommt ihr am Abend? Ich schmeiße ein paar Lammkoteletts aufs Feuer.«
    Gabor konnte nicht antworten. Seine Knie gaben nach. Er sah die Kinder die Treppe hochjagen.
    »Drei Minuten«, rief Rita. »Und ausspucken. Nicht runterschlucken.«

15
    Die Maschine war halb leer. Eine Basketballmannschaft okkupierte die Reihen vor ihm, Aufmerksamkeit erregende Männer, die sich über die Sitze hinweg unterhielten oder im Gang aufbauten und lachten. Nach einer Stunde wurde es still. Kopfhörer auf den Ohren, dösten die Riesen mit eingeklappten Extremitäten vor sich hin, während Gabor mit einem schmerzhaften Dröhnen in den Ohren und einem metallischen Geschmack im Mund auf die schneebedeckten Gipfel der Alpen starrte.
    »Die Insel. Natürlich! Sie ist auf der Insel«, hatte Berit gerufen und mit ihrem erleichterten Schluchzen Malte so erschreckt, dass er anfing zu weinen.
    »Ich flieg hin«, hatte Gabor gesagt.
    »Ja«, hatte sie geantwortet und war nach oben gegangen, um seine Tasche zu packen, als könnte sie es nicht erwarten, dass er das Haus verließ.
    In Athen schlurften die Basketballspieler durch den Transitbereich zur Abfertigung nach Thessaloniki, während er mit einer Handvoll Passagiere in der verglasten Halle auf das Flugzeug nach Samos wartete, eine Propellermaschine, die nach einem ohrenbetäubenden Steigflug fast geräuschlos über das Meer und die versprengten Inseln schwebte und dabei hin und her schaukelte, als hinge sie an einem Faden. Während der Landung waren die Häuser, die Straßen, die Küstenlinien der türkischen Seite klarer zu sehen als die im Nebel liegenden Berge der Touristeninsel. Er hasste Samos. Die Hotelkomplexe, die Abfütterungsrestaurants, die aufgereihten Korbsessel auf den Terrassen der Cafés und die Horden britischer Touristen, die sich den Tag über betranken, um am späten Nachmittag ihre Schlachtgesänge anzustimmen. Kos, Rhodos, Samos. In der Nachsaison begann das, was alle nur die »Schweinewochen« nannten. Um den Betrieb bis Weihnachten am Laufen zu halten, verscherbelten die großen Hotels ihr Zimmerkontingent an Gemeinden aus England, die dieses dann Arbeitslosen und Jugendlichen ohne Ausbildung zur Verfügung stellten. Eine Woche Strand, Sonne und lauwarme Keftedes, finanziert vom Sozialamt, das damit die anstrengendsten Kunden kurzzeitig aus den Wartesälen räumte und seinen überforderten Mitarbeitern ein paar ruhige Tage erkaufte. Er nahm ein Taxi zum Hafen, schloss die Augen, als sie an der vom Gebrüll heiserer Stimmen erfüllten Uferpromade im Schritttempo entlangrollten.
    Eine Stunde später lehnte er an der Reling einer HighspeedFähre. Es war kühler als erwartet, das Meer unruhig. Die Fähre lief einige kleinere Inseln an, und als sie nach Westen abdrehte, wurden die Wellen höher. Er blieb draußen, auf einer Bank, im Wind, in der salzigen Luft, weil ihm drinnen vom Geschaukel übel wurde.
    Es war bereits dunkel, als er den Boden ihrer Insel betrat. Der Hafenort hatte jetzt, Anfang Oktober, nichts mit dem überfüllten Küstenörtchen gemein, das sie vor sieben Wochen verlassen hatten. Keine Menschenmenge auf der Promenade, keine ankernden Jachten. Die meisten Restaurants waren verbarrikadiert, vor den anderen hielten herabgelassene Plastikwände den Wind ab. Timothy wartete bei den Frauen mit den Zimmer-zu-vermieten-Schildern hinter der Absperrung und machte ein ernstes Gesicht.
    »Lass das«, sagte Gabor, als er ihm wie einem Versehrten die Tasche abnehmen wollte.
    Sie fuhren im Range Rover die enge Gasse parallel zur Promenade entlang – die Schaufenster der geschlossenen Souvenirläden waren mit Zeitungspapier verklebt – bis zu dem Platz mit dem Denkmal von Kapodistrias, das von zwei Kanonen gerahmt wurde, die angeblich noch aus den Unabhängigkeitskriegen stammten. Timothy rumpelte auf den Bürgersteig und hielt vor einer Bank. In dem klassischen Bau vom Ende des 19.   Jahrhunderts, in dem früher eine Seefahrerfamilie ihren aus aller Welt zusammengetragenen Schatz

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