Gesichter: Roman (German Edition)
langer Pause und versuchte durch die großen Fenster den Hang zu erkennen, aber es war zu dunkel. Achtzig, hundert Meter weiter den Berg hinauf stand ihr Haus, zur Hälfte von Sträuchern und einem Baum verdeckt, viel kleiner als das, in dem er gerade saß, und, seit sie es vor elf Jahren gekauft hatten, noch immer das letzte des Dorfes am Ende des Feldwegs. Dahinter nichts als Steine und Gestrüpp und der Trampelpfad durch die Macchia hinunter zur nächsten Bucht.
»Wirklich, du kannst gern bei uns bleiben.«
Maureen brachte ein Tablett mit einer Kanne dampfendem Tee.
»Das war Berit«, sagte sie lapidar. »Es ist alles in Ordnung. Malte spielt mit seinem Freund.«
»Wollte sie mich nicht sprechen?«, fragte Gabor überrascht. Er hatte es nicht vorgehabt, aber seine Selbstkontrolle schien außer Funktion. Das Gefühl des Traums war noch präsent, eine unkonkrete und vertraute Beklommenheit, an deren Auslöser er sich nicht erinnern konnte.
Maureen antwortete nicht gleich. Sie goss Tee ein, ließ sich umständlich nieder, hob ihre Tasse zum Mund, blies auf die dampfende Flüssigkeit, sagte verlegen, während sie mit zusammengekniffenen Augen zum Fernseher blickte: »Nein. Wollte sie nicht. Tut mir leid.«
Als Gabor aufstand, um zu gehen, erhob sich auch Timothy, aber Gabor protestierte. Er nahm seine Tasche, er schwankte auf dem Weg zur Tür, obwohl er nur zwei Gläser getrunken hatte. Mondlicht. Macchia, die beim Gehen knisternd über die Hosenbeine strich. Der Wind war stärker geworden, ein Widerstand, in dem er sich wiegte, der sich kühl auf sein Gesicht legte. Er ging, aber das Haus kam nicht näher. Die weite Fläche des Wassers in der Tiefe, von Wellenlinien gezeichnet wie ein Zen-Garten. Er hörte das Glöckchen einer Ziege, konnte das Tier aber nirgends entdecken.
Das Haus roch modrig, nach feuchten Matratzen. Er stieg über die Mausefallen im Flur und erschrak, als er im Wohnbereich die Laken über den Möbeln sah. Milchiges Nachtlicht fiel in Streifen durch die Lamellen der Fensterläden auf die gespenstischen Gebilde. Er schaltete das Licht nicht an, zu müde für die Erinnerungsblitze, die der Anblick des Raumes auslösen würde, legte sich auf die nachgebende Stoffbahn, unter der sich das Sofa befand, und schlief auf der Stelle ein.
Am nächsten Morgen, er stand schon in der Tür, klingelte das Telefon.
»Hallo«, sagte Berit kühl.
»Alles in Ordnung?«, fragte er atemlos und presste den Hörer ans Ohr.
»Es ist keine Karte gekommen, wenn es das ist, was du wissen willst.«
Etwas Feindliches wartete in ihrem Schweigen, lauerte nur darauf, hervorzubrechen.
»Ich bin auf dem Weg runter ins Dorf«, sagte er.
»Warum willst du nicht, dass Timothy dir bei der Suche hilft?«
»Wie geht es Malte?«, fragte er.
»Gabor. Warum soll Timothy dir nicht helfen?«
»Ist Rita noch bei euch?«
»Hör auf«, rief sie. »Du denkst noch immer an diesen Flüchtling. Du bist auf der Insel und denkst trotzdem immer an diesen Mann!«
»Ich denke nicht an den Flüchtling«, sagte er. Ihr Groll schien unerschöpflich. Sie befand sich entweder im Schlafzimmer oder in ihrem Zimmer unterm Dach, während er durch die kleine Fensteröffnung auf den Hang und die Hügelkette und den kargen Kegel des Profitis Ilias sah, der sich dahinter majestätisch erhob. Er sah die schroffe Landschaft im hungrigen Morgenlicht so vertraut, als hätte er Berlin nicht gestern, sondern vor Tagen verlassen.
»Ich werde verrückt. Sag es mir, sonst werde ich verrückt. Warum bist du auf dieses Lastwagendeck gegangen? Warum hast du diesen Mann gesucht?«
Gabor konnte nicht antworten, obwohl er die Frage lange gefürchtet hatte. Er dachte an die kleinen Blechplättchen, die Gläubige an die Ikonen in den griechischen Kirchen hängen, wenn sie um Hilfe bitten. Ein Tama. Eine Geste, eine helfende Berührung, etwas Kleines, das dabei hilft, seine Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Er dachte an den Zirkusbesuch mit seinen Eltern, als er zehn oder elf gewesen war. Während der Vorstellung war er plötzlich aufgestanden und hatte sich unter den Sitzreihen zwischen den Stangen hindurch bis zu dem Bereich hinter der Manege geschlichen, dorthin, wo die Clowns und die Artisten auf ihren Auftritt warteten und ein Mann aufgeregt Anweisungen gab. Niemand achtete auf ihn und er sah sie herumalbern, ihre Anspannung und Nervosität, er hörte sie reden in Sprachen, die er nicht verstand, und als er wieder auf seinem Platz saß, verstärkte sein
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