Gesichter: Roman (German Edition)
Wissen den Zauber ihrer Darbietungen noch. Es war, als träten sie ausschließlich für ihn auf, obwohl er sie durchschaut, obwohl er ihr Geheimnis mitgenommen hatte.
»Ich wollte sein Gesicht sehen«, sagte er.
»Du wolltest ihn sehen?«
»Am Hafen ging alles so schnell, dass ich es kaum glauben konnte. Ich wollte ihn sehen.«
»Und? Hast du gefunden, was du gesucht hast? Was hast du da unten gesehen?«
Er schwieg.
»Du bist nie wieder zu uns hochgekommen, weißt du das? Du bist dort unten geblieben und nie wieder zu uns hochgekommen.« Fast flehend sagte sie: »Nele ist dort, ich weiß es. Aber du darfst nicht mehr an diesen Mann denken, wenn du sie finden willst, verstehst du? Du musst ihn vergessen. Bitte«, sagte sie schnell, als hätte er sie unterbrechen wollen. »Ruf nicht mehr an. Erst, wenn du Nele gefunden hast. Ruf an, wenn du sie gefunden hast.« Er sah die Mäuseköttel auf den Fliesen der Küche, die von irgendeinem unsichtbaren Loch in der Wand neben der Tür bis zur Nische unter der Spüle führten. »Ich bin zu schwach«, sagte sie.
Die meisten der Karten an Berit hatte Gabor hier geschrieben, hier bei Prekas, während Leonidas, den alle nur »Prekas’ Sohn« oder einfach »Sohn« nannten, die Stühle umgedreht oder die Terrasse gefegt hatte. Auch jetzt war er der einzige Gast. Das Wasser stand hoch, ein paar Fischerboote und das Kaiki, das in der Hochsaison die Strände der Umgebung anlief, tanzten auf den Wellen. Wortlos brachte Leonidas einen Cappuccino und legte die Hand auf Gabors Schulter, als wäre er nie weg gewesen.
»Auch nicht wärmer hier, was?«
»Nicht zu vergleichen«, sagte Gabor. Leonidas trug trotz der empfindlichen Temperaturen zur Jeans nur ein T-Shirt, aus dessen Ärmeln seine sehnigen Oberarme ragten. Er stand in der Tür der ehemaligen Reedereivilla und blickte auf das bräunliche Wasser.
»Was machen die Verrückten in Berlin?«
»Werden immer mehr«, antwortete Gabor.
Wie viele Einheimische mochte es Leonidas, schlecht über Griechenland zu reden, aber noch mehr gefiel ihm, wenn andere über ihre Länder klagten und seines auf diese Weise doch nicht so schlecht abschnitt. »Wie geht’s deinem Vater?«, fragte Gabor.
Der alte Prekas war inzwischen über achtzig, schritt aber noch jeden Vormittag, eine Baskenmütze auf dem Kopf und die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Promenade ab, um den Laden würdevoll wie ein Bibliothekar zu betreten, sich in einen hölzernen Verschlag zu zwängen und, falls es jemand wünschte, mit seinen inzwischen zittrigen Fingern Fährtickets auf den abgegriffenen Holztresen zu legen. Aber Fahrkarten kauften bei Prekas die wenigsten. Morgens gab es hier den ersten Kaffee und am Nachmittag kamen die Einheimischen, um Tavli zu spielen oder später auf dem Bildschirm unter der Markise Fußballspiele zu verfolgen, und die Touristen und Ferienhausbesitzer aus Deutschland und Frankreich, um sich bei Ouzo und Mezedes wie Insulaner zu fühlen. In den letzten Jahren mischten sich sogar einige der schwerreichen Jachtbesitzer für einen Aperitif unters Volk, bevor sie weiter schlenderten, zu den teuren Restaurants ans Ende der Hafenbucht. Als Berit und er zum ersten Mal auf die Insel kamen und nach ihren spätsommerlichen Wanderungen bei Prekas einkehrten, bediente der Alte noch selbst, spöttisch, mit freundlichem Hochmut. Das gleichmäßige Klackern der Steine, das Murmeln der Spieler, die Handvoll alter Holztische auf den paar Quadratmetern vor einer verwitterten Fassade: Prekas kam dem Ideal einer Inselouzerie so nah, dass sie ohne diese glücklich beschickerten Stunden bis nach Sonnenuntergang nie den Mut aufgebracht hätten, nach den Sternen zu greifen, nie hätten sie ohne Prekas gewagt, ihr Haus zu kaufen.
»Stur wie immer.«
»Und sonst?«
Leonidas machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Erst die Leiche, dann der Oktoberregen Mitte September. Und jetzt die Invasion. Bleibst du lange?«
Statt zu antworten, zog Gabor das Telefon mit Neles Foto aus der Tasche.
»Meine Tochter ist weg.«
Verwundert betrachtete Leonidas das Bild.
»Das verschwundene Mädchen ist deine Tochter?«
»Sie hat sich im Sommer verliebt, in einen Jungen von der Insel, und deshalb hoffe ich, dass sie hier ist.«
»Wie heißt er?«
»Das wissen wir nicht.«
Leonidas betrachtete Nele mit einem seltsam gequälten Ausdruck, dann reichte er ihm das Telefon zurück.
»Ist kaum noch jemand hier. Zumindest kaum jemand von uns. Vielleicht geht dieser
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