Gesichter: Roman (German Edition)
schüttelte, verschwand die Hoffnung aus ihrem Blick. Sie sahen sich an.
»Ich wünschte, du hättest diese Karten nie geschrieben.«
Berit klang ruhig, als hätte sie Stunden über diesen Satz nachgedacht. Er erwiderte nichts, und sie schloss die Augen, und als er sich noch immer nicht regte, hob sie die Hände vors Gesicht.
Am vierten Tag – Donnerstag – kamen die Einsatzleiterin und ihr schweigsamer Kollege etwas früher als sonst, um dabei zu sein, falls der Postbote womöglich die nächste Karte durch den Briefschlitz fallen ließ. Sie saßen zu viert im Wohnzimmer, sprachen gedämpft wie nach einer Beerdigung. Berit fragte, ob sie Kinder hätten und in welchen Bezirken sie wohnten, und erzählte dann scheinbar unzusammenhängende Episoden aus Neles Kindheit: dass sie sich immer als Ritter verkleiden wollte und schon mit sieben den Malwettbewerb einer Zeitung gewonnen hatte. Schließlich hörten sie die schnellen Schritte auf den Stufen vor dem Haus, dann den dumpfen Schlag, mit dem die Post auf den Boden im Windfang fiel, das Scheppern der Klappe. Berit und die beiden Polizisten sahen ihn an. Gabor stand auf, ging in den Flur und nahm die Post vom Boden. Eine Karte war nicht dabei. Die Polizistin versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber die Art, in der sie einen Moment die Augen zusammenkniff und auf ihrer Unterlippe kaute, war deutlich genug. Offenbar gab es einen Fahrplan, einen aus Hunderten Fällen abgeleiteten durchschnittlichen Entführungsablauf. Nach X Stunden war der Großteil der Entführten wieder frei oder tot. Y Prozent derjenigen, die nach dem Tag Z noch immer vermisst wurden, blieben für immer verschollen. Offenbar markierte das Ausbleiben der Karte den Übergang von einem Entführungsmuster zum anderen, den Übergang von einer Version mit glimpflichem Ausgang zu einem Ablauf mit schrecklichem Ende.
»Wollen Sie, dass wir uns an die Presse wenden?«
»Nein«, riefen Berit und er wie aus einem Mund, als würde solch ein Schritt nur den schlimmsten aller möglichen Fälle heraufbeschwören und das Eingeständnis ihres Scheiterns dokumentieren. Danach hörte er nicht mehr zu, erinnerte sich später nur an ihren Rat, sich Freunde, »sich Beistand ins Haus zu holen, der Ihnen auch zur Hand gehen kann«.
Am Nachmittag kam dieser Beistand in Gestalt von Rita, Lukas’ Mutter, dem Jungen, mit dem Malte zusammen in die Kita ging. Während die beiden Kinder nichtsahnend durchs Haus tollten, saßen die beiden Frauen in der Küche, Hände um bauchige Teebecher, und sprachen, solange Gabor in der Nähe herumschlich, mit gesenkter Stimme.
Mit jedem Tag verringerte sich die Hoffnung. Sie sickerte aus ihm wie eine Flüssigkeit, entwich wie das heimliche Fluidum seines Lebens. Reines Warten, das nackte Verstreichen der Zeit. Er kratzte sich wieder, wie als Student vor den Prüfungen, bis die Kopfhaut blutete. Die Einsatzleiterin sagte: »Geduld. Wir brauchen Geduld.« Aber er wusste, was das bedeutete. Dass Nele, falls sie entführt worden war, nicht mehr lebte, dass sie mit verdrehten Gliedern tot in irgendeinem Keller lag oder notdürftig verscharrt im Wald. Doch es gab auch Phasen, in denen seine Gedanken aussetzten und er begriff, dass sie einfach weg war, grundlos, verschwunden wie ein Geist. Sie stritten nicht, sie schlichen wie feindliche Tiere umeinander, getrennt und überwacht von Rita, die für sie kochte und sich in Berits Nähe aufhielt, als müsste sie vor ihm geschützt werden.
Der Anruf kam am Morgen, als Gabor gerade das Haus verlassen wollte, um zum ersten Mal wieder in die Klinik zu fahren. Gestern Abend habe sich ein Mädchen aus Neles Volleyballmannschaft gemeldet, sagte die Einsatzleiterin. Das Mädchen war auf Klassenfahrt und hatte erst nach ihrer Rückkehr von Neles Verschwinden erfahren. Ihr war eingefallen, dass Nele mal von einem griechischen Jungen gesprochen hatte, von einem Jungen auf einer Insel. Wahrscheinlich würde sie bald nicht mehr zum Training kommen, habe Nele noch gesagt. »Wir haben alle Passagierlisten kontrolliert, außerdem würde keine Fluggesellschaft ein minderjähriges Mädchen befördern. Aber sie könnte natürlich mit dem Zug nach Griechenland gefahren sein oder sich sonst durchgeschlagen haben.«
Den Hörer noch in der Hand, stand Gabor bewegungslos neben dem Sideboard. Er hörte Berit und Rita, die mit den beiden Jungen in der Küche frühstückten. Die Insel. Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Weil alle Hausschlüssel noch in der
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