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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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präsentierte, waren jetzt das winzige Inselmuseum, eine Bibliothek und das Postamt untergebracht. Niemand war zu sehen. Timothy, der noch kein Wort gesagt hatte, blickte zu dem gepflasterten Weg, der hinter dem Denkmal in das Gassengewirr des Dorfes führte. Er war noch hagerer geworden, hatte wahrscheinlich nach Abklingen der Hitze sein Laufpensum noch einmal erhöht.
    »Da?«, fragte Gabor.
    Timothy nickte.
    »Wann?«
    »Vorgestern. Sie war allein und schlenderte Richtung Fischmarkt.«
    Gabor öffnete die Tür und stieg aus. Der Wind raschelte in den Blättern der Palmen. Der Wind, der Wind – er würde nicht mehr aufhören die nächsten Wochen und Monate, ein unberechenbares Rauschen und Pfeifen, das zum Flüstern werden konnte, bevor es scheinbar ganz aussetzte, um im nächsten Moment wieder aufzufauchen und an Kleidern, Wipfeln und Wänden zu zerren, eine Atem nehmende Kraft, die Häuser, Menschen und Autos von ihren Plätzen reißen und zurück in den Fels pressen wollte und jedes Mal umso wütender zurückzukommen schien, je weniger es ihr gelang.
    Gabor wusste Timothys Blick im Rücken, während er über den Platz ging. Der steinerne Kapodistrias wirkte in den Lichtspots, die ihn vom Marmorboden beleuchteten, mit den Schatten im schmalen Gesicht und der Haarwelle wie ein Wittelsbacher, der zur Geisterstunde aus dem Schrank steigt. Am Ende der Gasse sah er das beleuchtete Fenster der Taverne, in der die Fischer nachmittags nach dem Markt einkehrten. Er stand dort, wo Timothy Nele gesehen hatte, und der Gedanke beruhigte ihn. Auf der Insel war alles anders. Die Mischung aus verdichtetem Leben und Weltvergessenheit machte ihn zuversichtlich. Die Regeln, die Art, in der das eine ins andere griff, Zufälle, Koinzidenzen, wahrscheinlich müsste er sich nur auf einer der Bänke niederlassen und ausharren, stunden-, tagelang, und Nele würde irgendwann vorbeischlendern, angezogen, angelockt von seiner Geduld. Er fragte sich, ob er zum Marktplatz gehen sollte, dorthin, von wo leise Musik herüberklang, für einen Moment war er unschlüssig, ob er mit der Suche nicht gleich beginnen sollte, und sein Herz begann schneller zu schlagen, aber dann wandte er sich um. Auf dem Weg zum Auto blieb er abrupt stehen, als er das Plakat an einem hölzernen Strommast entdeckte. Ein DIN -A4-Blatt mit dem Foto von Nele, über dem in roten Lettern das Wort »Missed« stand. Das Lächeln, der Blick zur Seite, ihr Haar, viel dunkler als in Wirklichkeit. Reglos stand er da.
    Das Meer unter ihnen war schwarz und aufgewühlt. Die Stürme der letzten Tage hatten Äste und Unrat an Land gespült und eine zweite geschwungene Küstenlinie aus Tang auf dem hellen Sand hinterlassen. In den Kurven den Berg hinauf drehten die Räder durch. Timothy zog die Handbremse, Stille drang durch die offenen Fenster und nach einer Schrecksekunde setzte das scharfe Sägen der Zikaden wieder ein. Schotter flog durch die Luft, Steine knallten gegen Blech, dann hatten sie es geschafft und rollten unter dem wolkenverhangenen Himmel in sanften Serpentinen die Anhöhe zu Timothys Grundstück, zu ihrem Anwesen hinauf.
    »Du solltest nicht zu sicher sein. Ich kann mich auch geirrt haben«, sagte Timothy.
    »Seit wann hängen die Anschläge?«
    »Seit heute.«
    Gabor sah das Haus, niedrig und lang, ein dunkler, aus dem Berg geschobener Riegel, mit kleinen erleuchteten Vierecken. In einem der Fenster entdeckte er Maureen. Sie musste das Motorengeräusch gehört haben, denn kurz darauf stand sie in der Tür und hob zur Begrüßung die Arme, obwohl sie nichts anderes sehen konnte als ein Scheinwerferpaar, das zitternde Achten ins Dunkel zeichnete, während es langsam näher kam.
    Sie taten ihm den Gefallen und redeten während des Essens nicht über Nele. Das Kaminfeuer brannte. Die Sofas mit den weichen Kissen, die Vasen und Schüsseln, das Licht der Schirmlampen, die rustikale Behaglichkeit umschloss ihn wie eine Decke. Sie sahen gut aus, wie immer. Er sehnig, durchtrainiert, sie rotwangig und durchpulst. Sie warteten, aufmerksam und diskret, sie stellten keine Fragen. Sie schenkten ihm die Freiheit, zu sagen, was er wollte. Der Wein machte ihn müde, sein Kopf sank ins Polster.
    Als er wieder erwachte, lief auf dem Plasmabildschirm über dem Kamin eine Dokumentation auf BBC .
    »Wir haben dir das Gästezimmer hergerichtet«, sagte Timothy. Aus der Küche hörte er die leise Stimme der telefonierenden Maureen.
    »Danke, aber ich schlafe lieber bei uns«, sagte er nach

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