Gesichter: Roman (German Edition)
am Fenster, eine Karaffe mit Wein und Vorspeisen vor sich. Maureens Haut war rosig, als hätte sie den Vormittag auf ihrer Yogamatte verbracht, doch Timothy wirkte bedrückt.
»Nichts«, sagte Gabor als Erstes und fragte, um das mitfühlende Schweigen zu beenden: »Was ist mit der Insel passiert?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Timothy.
»Sind dir unsere Gäste aus dem Osten auch schon aufgefallen?«, sagte Maureen, nachdem sie ihr winziges Glas geleert hatte.
»Hör auf«, sagte Timothy.
»Er will über die armen Kerle nicht reden.« Sie rollte andeutungsweise mit den Augen.
»Ich will nicht, dass man die Sache größer macht, als sie ist.«
»Er glaubt, wenn man sie verschweigt, spricht sie sich nicht herum. Zumindest nicht bis nach Amerika. Wir haben nämlich einen Kaufinteressenten aus Washington, der sich im Sommer in unsere Insel verliebt hat und den Preis, den wir verlangen, tatsächlich zahlen will. Hat keine Ahnung, was sich hier abspielt.«
»Ihr wollt wirklich verkaufen?«, fragte Gabor verdutzt. Maureen hob zum Zeichen, dass sie nicht reden durfte, die Hände.
»Erinnerst du dich an die Leiche«, sagte Timothy, »die Leiche am Strand? Das war nur der Anfang. Unsere Insel liegt auf einer Route. Im Moment zumindest«, sagte er beschwichtigend. Maureen wollte widersprechen, schenkte sich stattdessen nach und trank das kleine Gals gleich aus. »In ein paar Wochen ist der Spuk wieder vorbei. Wenn die richtigen Winterstürme beginnen, wird die Überfahrt zu gefährlich«, sagte Timothy. »Zu weit von der türkischen Küste entfernt.«
Maureen konnte nicht mehr an sich halten.
»Er redet wie die Griechen. Solange nichts passiert, malen sie den Teufel an die Wand, aber sobald etwas passiert, stecken sie den Kopf in den Sand und meinen, das Problem löse sich von allein.«
»Wir können nichts tun. Das ist das Problem! Sie kommen hier an und wollen weiter«, rief Timothy verärgert.
»Ihr wollt also wirklich verkaufen?«, wiederholte Gabor. Er hatte alles gesehen, die Zelte, die Männer im Ort, konnte die Konsequenz ihrer Anwesenheit aber nicht glauben. Er blickte aus dem Fenster, zu den Ständen der Fischer am Markt, weiter hinten leuchtete zwischen Häusern das blaue Meer. Alles schien wie immer.
»Ich habe eine Anzeige geschaltet, nur um die Lage zu sondieren.« Timothy senkte die Stimme. »Maureen hat recht. Auch wenn die Situation sich entspannt, spätestens nächsten Mai wird es sein wie jetzt, wahrscheinlich noch schlimmer. Eine Insel nach der anderen richtet ein Aufnahmelager ein, also weichen sie auf die kleineren Inseln aus, von denen sie schneller nach Athen kommen. Entweder bekommen wir auch ein Lager oder wir haben bald mehr Flüchtlinge als Einwohner. Egal, was passiert: Die Preise rauschen in den Keller.« Er hob entschuldigend die Hände. »Wir haben nichts als unser Haus. Wenn dieser Amerikaner sein Angebot ernst meint …«
»Was heißt das: Die Insel liegt auf einer Route?«
Maureen lachte. Sie wollte ihr Glas schon wieder füllen, aber Timothy legte seine Hand auf ihren Arm.
»Setz dich um sieben zu Prekas«, sagte er, »dann verstehst du, was ich meine.«
Die Plastikplane hielt zwar den Wind, aber nicht die Gischt ab, die mit jeder gegen die Mauer stoßenden Welle bis zu ihnen sprühte. Rentner in gesteppten Jacken saßen in der Nähe der Tür, albanische Handwerker ließen die Holzkugeln ihrer Kombolois langsam durch die Finger gleiten, alle anderen Stühle waren von den Männern besetzt, die er tagsüber im Ort gesehen hatte. Sie hatten weder Getränke noch Teller vor sich, sie saßen nur da, Taschen oder Rucksäcke zwischen ihren Füßen, und blickten auf den Boden. Niemand sagte etwas. Durch die Fenster sah Gabor im Inneren des Ladens Landkarten griechischer Inseln an den Wänden, die Mütze des Alten, die sich hinter dem Verkaufstisch bewegte. Leonidas winkte ihm zu, machte aber keine Anstalten, nach draußen zu kommen. Minuten, in denen nichts zu hören war als das Pfeifen des Windes, das Aufspritzen des Wassers und das Klackern der Holzkugeln. Der Mann neben ihm war vielleicht fünfundzwanzig, hockte auf der Vorderkante des Stuhls, die Kapuze seines Anoraks über dem Kopf. Gabor suchte nach etwas in seinem Gesicht, nach einer Spur von Angst oder Hoffnung, aber es war ohne Ausdruck. Er empfand Neles Nähe plötzlich so stark, als wäre sie hier bei ihm, unter ihnen, und der Schmerz über die Heftigkeit dieser Illusion nahm ihm fast den Atem. Als die Männer
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