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Gesichter: Roman (German Edition)

Gesichter: Roman (German Edition)

Titel: Gesichter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Schäfer
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unruhig wurden, schaute Gabor auf und sah den Bug einer Fähre zwischen den Kontrolllichtern, deren unerwartete Größe das Hafenbecken winzig erscheinen ließ. Wortlos standen sie auf, nahmen ihre Taschen, näherten sich der Anlegestelle. Die knisternde Mikrofonstimme des manövrierenden Offiziers klang fetzenweise herüber, während das Schiff schwerfällig wendete. Wenige Minuten später war alles vorbei.
    Einige Laster waren an Land gerollt, gefolgt von drei oder vier Limousinen. Nachdem auch die Fußgänger das Schiff verlassen hatten und die wenigen Rucksackreisenden von den Frauen mit den Ferienzimmern in Empfang genommen worden waren, hatte der Hafenpolizist zuerst die regulären Passagiere an Bord gescheucht, den Pick-up mit den Wassermelonen, einen Transporter, auf dessen Ladefläche sich weiße Plastikstühle türmten, und dann die wartenden Männer. » Mésa, Mésa, Mésa « schrie er, trieb sie mit ausgebreiteten Armen wie eine Herde die Rampe hinauf, während die Vertäuung schon gelöst wurde. Das Horn stieß sein markerschütterndes Signal aus, Wasser schäumte auf, das Schiff hatte abgelegt. Gabors Gesicht, seine Hände waren nass von der sprühenden Gischt. Sie hatten keine Fahrkarten, sie waren ohne Kontrolle durchgewunken worden.
    Kaum war die Fähre hinter dem Felsen verschwunden, belebte sich die Promenade. Leonidas kam nach draußen, wischte die feuchten Tische und brachte ihm ein Bier. Ein Gehilfe installierte den Fernseher unterhalb des Vordachs, innerhalb kürzester Zeit waren alle Stühle besetzt. Der Wind ließ nach, das Meer begann ölig zu glänzen, und Gabor behielt die Gasse zum Fischmarkt im Blick, in der, wie er glaubte, Nele jeden Moment erscheinen konnte, denn der schmerzhafte Eindruck von ihrer Anwesenheit hatte sich noch verstärkt, doch statt seiner Tochter entdeckte er das Mädchen vom Schulhof in der Chora. Die Hände in den Taschen einer Jeansjacke vergraben, kam sie die Uferstraße entlang.
    Er winkte ihr, und als sie ihn entdeckte, überquerte sie die Straße. Schüchtern stand sie vor ihm, setzte sich sogar, nachdem er sie dazu aufgefordert hatte, doch Gabor zögerte, nach Nele zu fragen, weil er plötzlich Angst hatte vor dem, was sie antworten könnte.
    »Möchtest du etwas trinken?«
    »Nein.«
    Der Saum ihrer Jeans und ihre Segelschuhe waren dunkel vor Feuchtigkeit. Sie hatte blondes Haar, und ihm fiel ein, dass sie auf dem Schulhof alle ihre Freundinnen um einen halben Kopf überragt hatte. Sie blickte zum Bildschirm, als bräuchte sie einen Ort zum Hingucken.
    »Seit wann geht das eigentlich so?«, fragte er.
    »Was?«
    »Das mit den Flüchtlingen.«
    Sie hob die Schultern.
    »Drei Wochen ungefähr.«
    Einer der Alten hinter ihnen lachte und spuckte auf den Boden, und sie drehte sich kurz nach ihm um.
    »Was sagt er?«
    »Man müsse ihnen in der Nacht entgegenfahren, ein Boot kentern und alle ertrinken lassen. Das würde dafür sorgen, dass sie unsere Insel in Zukunft meiden.«
    Sie hörten beide eine Weile auf das Gespräch hinter ihnen. Lass gut sein. Zum Teufel. Mehr verstand er nicht. Sie musste älter sein, als er gedacht hatte, sechzehn oder siebzehn, hatte schon den ernsten, gleichgültigen Blick der Inselfrauen. Ihre deutsche Mutter führte einen Friseurladen, fiel ihm wieder ein.
    »Haben Sie etwas über Ihre Tochter erfahren?«, fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Jemand hat gesagt …« Es schien sie Überwindung zu kosten, denn sie presste ihre Lippen aufeinander. »Jemand hat gesagt, dass er Nele im Sommer öfter mit Georgios gesehen hat. In einem Café dahinten und auch mal am Strand. Sie waren mit dem Boot seines Vaters unterwegs.«
    Gabors Kehle verengte sich. Mensch Papa! Es war das Boot seines Vaters. Für einen Moment verschwamm sein Blick.
    »Und wo finde ich diesen Georgios?«
    Sie machte eine Kopfbewegung zur anderen Seite der Bucht.
    »Dahinten steht das Haus seiner Familie. Aber er ist nur im Sommer hier. Sie leben in Athen.«
    »Das heißt, dieser Georgios ist in Athen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein. Er studiert. Er studiert irgendwo in Kanada.«
    Er wollte fragen: »Kennst du seinen Nachnamen? Weißt du, wie ich seine Eltern erreichen kann?« Aber stattdessen saß er nur apathisch da, während Fußballspieler auf einem Acker vor den leeren Rängen eines Provinzstadions einem Ball hinterherjagten und die Stimmen um ihn herum lauter und wieder leiser wurden, als befände er sich unter Wasser. Als er sich zu ihr drehte, war sie

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