Gesichter: Roman (German Edition)

Platz, wo sein Auto stand, sah er die Suchmeldung von Nele auf der Anschlagtafel neben dem Busfahrplan und den verblichenen Vermisstenanzeigen mit Fotos in Athen verschollener Kinder, die vor einem, zwei oder fünf Jahren zum letzten Mal gesehen worden waren. Er ertrug es nicht, das Lächeln seiner Tochter neben Bildern dieser wahrscheinlich Toten zu sehen, dem Wind ausgesetzt und den Blicken der zahnlosen Alten, die im Laufe des Tages über den Platz geschlurft kamen, um sich in der Apotheke mit Medikamenten einzudecken. Was sollte der Anschlag anderes bringen als einen Vorwand zum Austausch der ewig gleichen Erinnerungen an Menschen, die früher verschwunden waren, während des Krieges, der Junta, zum ewig gleichen Seufzen über den Zustand der Welt. Er löste die Reißzwecken aus dem Holz und ließ das Papier in seiner Tasche verschwinden, doch während er zum Jeep ging, blieb er noch einmal stehen. Der Laden mit den Batikkleidern war verbarrikadiert, auch das Café, in dem die Wanderer auf den Bus zum Hafen warteten, hatte dichtgemacht. Nur in der Apotheke brannte Licht. Kartons stapelten sich hinter der Tür und am Tresen sah er eine telefonierende ältere Dame mit einer Lesebrille um den Hals. Hoch über dem Dorf klammerte sich eine winzige Kapelle in den Fels, weiß gestrichen, mit aufgestellter griechischer Flagge, deren scharfes Schlagen bis zum Platz zu hören war. Der Wind, behaupteten die von der Küste, mache die Leute hier oben dumm. Argwöhnisch und dumm.
    Er fuhr auf der neu geteerten Straße die karge Bergflanke entlang, die den Süden mit dem Norden der Insel verband. Kalkfelsen, an denen sich mit aufschießender Gischt die Wellen brachen, senkrecht abfallende Steilküsten, in denen die Schieferschichten wie die Ebenen eines Baumkuchens hervortraten. Auf einer betonierten Seitenwand entdeckte er den Schriftzug ein zweites Mal: Nein! Raus! Und das Wort für Abfall. Kurz bevor er die begrünten Schlauchbuchten erreichte, kamen ihm zwei junge Männer auf der Straße entgegen, die aussahen, als wären sie fremd hier. Der eine schaute stur vor sich hin, aber der andere machte mit der Hand eine Bewegung in Höhe des Magens, als hätte er Hunger, und schaute Gabor in die Augen, als er an ihm vorbeifuhr.
    Die Perlendörfer. Damals, als sie ihre Insel entdeckten, waren diese Weiler über der Ostküste seit dem Erdbeben so gut wie unbewohnt, obwohl die Ebenen oberhalb der abgebrochenen Kante und die versteckten Senken dahinter fruchtbar waren wie wenige Gebiete sonst. Ein paar Alte zogen Gemüse, hielten Ziegen und Hühner in Verschlägen, während die Häuser um sie herum weiter verfielen, bis ein Londoner Architekt ein ganzes Ensemble kaufte und das Dutzend Ruinen innerhalb eines Jahres in ein verstecktes Luxusresort verwandelte. Vom Meer, von anderen Orten, selbst von der Schotterpiste, die zu ihr führte, war die Anlage im Dickicht der Zedern, im silbrigen Flimmern der Oliven nicht zu sehen. Die Häuser aus Naturstein verschwammen mit der Erde, wirkten wie organische Auswüchse, Teile des Felsens. Auch die Pools blieben unsichtbar, verdeckt von Mauern und dicht stehenden Oleanderhecken, von Federgras, Feigen- und Orangenbäumen, versteckt wie der Hubschrauberlandeplatz hinter einer Kuppe oberhalb des Areals. Vor wenigen Wochen drängten sich auf dem Parkplatz an der Straße noch Dutzende Geländewagen und teure Limousinen, doch jetzt stand da nur der verlorene Kleinlaster einer Gärtnerei. Gabor ließ die Einfahrt hinter sich und lenkte den Wagen auf den staubigen Standstreifen in der Kurve, von der man die berühmteste Bucht der Insel einsehen konnte, den weißen Sandstrand und die Schatten spendenden Tamarisken, die auch auf einer der Karten an Berit abgebildet waren. Das Wasser leuchtete türkis wie immer, aber der Strand hatte sich in ein Lager verwandelt. Ein halbes Dutzend kleiner Zelte, ausgebreitete Decken, Kleider, die zum Trocknen in den Zweigen hingen. Acht oder zehn Männer saßen oder lagen um ein kleines Feuer herum.
    Gabor folgte den Windungen der Straße Bucht für Bucht und mit jeder neu ins Land einschneidenden Rippe wurde die Vegetation wieder trockener, die Sträucher schrumpften und bald glänzten die Hügel wieder wie die glatten Flanken von Stieren, als hätte er im Zeitraffer eine ganze Klimazone durchquert. Sobald sich ein Durchblick auf die versteckten Strände bot, stieg er aus. Er zählte drei dieser Lager. Zelte oder notdürftige Unterstände aus Ästen und Planen. In der