Gespenster Kuesst Man Nicht
Energie vibrierte, und ich begriff, dass er Nicholas auslachte, weil dessen Spielfigur soeben von einem Monster niedergetrampelt worden war. »Aauuu! Du hast mich abgelenkt!«, beklagte sich Nicholas. Und so ging es weiter, wie bei zwei dick befreundeten Schulbuben.
Ich ging vom Fenster weg. Ich brauchte erst mal Zeit, um über diese unglaubliche Entdeckung nachzudenken. »Hallo?«, fragte Gil. »Sag was, M.J.«
»Alles okay«, hauchte ich. »Lass mich mal eine Minute in Ruhe, ja?«
Gil verstummte, und ich lief zielstrebig zum Grundschulflügel zurück, um den schlummernden Steven zu wecken. »Raus aus den Federn!«, sagte ich munter.
Er fuhr auf. »Ich bin wach!«
Ich lachte. »Ja, klar. Komm, wir fahren heim.«
»Keine Aktivität?«
»Ich erzähl’s dir im Auto.«
Wir packten unsere Ausrüstung in den Kofferraum und stiegen ein. Gil, der schon auf dem Fahrersitz saß, drehte sich zu mir um. »Raus mit der Sprache!«
»Eric und Nicholas interagieren miteinander«, sagte ich, während er den Van startete und aus der Parklücke steuerte.
Steven sah mich überrascht an. »Der Bruder des Rektors?«
»Genau der. Sieht aus, als ob er im Keller des Hauptgebäudes wohnt. Er hat ein Videospiel gespielt und sich dabei mit Eric unterhalten.«
»Mit dem Kindergeist?«
»Genau.«
»Wie mein Großvater und Willis«, sagte Steven. Vor sechs Wochen, nachdem Steven mich angeheuert hatte, damit ich seinem tödlich verunglückten Großvater ins Jenseits helfe, waren wir Zeuge geworden, wie dessen Geist mit seinem Gärtner Willis Schach spielte.
»Ja, so ähnlich«, sagte ich, »aber auf einem Niveau, wie ich es noch nie erlebt habe. Willis und dein Großvater haben nicht miteinander gesprochen. Ihre Interaktion beschränkte sich auf ein paar Züge auf dem Schachbrett. Diese beiden verkehren miteinander wie zwei lebendige Menschen.«
»Worüber haben sie denn geredet?«, fragte Gil.
»Über das Videospiel.« Ich schüttelte den Kopf. »Das bedeutet, Eric nimmt seine Umgebung für einen Geist unwahrscheinlich gut wahr. Die Tatsache, dass er die Dinge sehen kann, wie sie gegenwärtig sind, und nicht daran festhält, wie sie vor dreißig Jahren waren, beweist eine erstaunliche Anpassungsleistung.«
»Und das ist ungewöhnlich?«, fragte Steven.
»Ja. Die meisten Geister nehmen nicht wahr, wie sich ihre Umgebung über die Jahre verändert. Sie agieren und reagieren nur so, wie sie es aus ihrer Zeit kennen. Für einen Geist aus dem achtzehnten Jahrhundert beispielsweise ist das gängigste Transportmittel Pferd und Wagen. Er wird sich also weiter mit Pferd und Wagen fortbewegen, und wenn er Autos sieht, wird er sie für Pferdewagen halten.«
»Warum?«, fragte Steven. »Warum sehen sie die Dinge nicht, wie sie sind?«
»Weil die meisten gestrandeten Seelen völlig verwirrt sind. Viele weigern sich ja sogar, ihren Tod anzuerkennen. Also projizieren sie, um damit zurechtzukommen, ihre Vorstellungen auf die Wirklichkeit. Manchmal wird ihnen bewusst, dass etwas nicht ist, wie es sein sollte. Wenn zum Beispiel eine Tür, die zu ihrer Zeit immer verschlossen war, plötzlich offen steht, werden sie sich bemühen, diese Tür wieder geschlossen zu halten. Deshalb versetzen Bauarbeiten sie so sehr in Aufregung. Große Veränderungen in ihrer Umwelt machen es mühsam, die überkommenen Vorstellungen beizubehalten.«
»Dann ist Eric ein ganz besonderer Geist«, sagte Gil.
»Nur zwei Prozent aller bekannten gestrandeten Seelen sind jemals in aktiven Kontakt mit einem Menschen getreten.« So lautete ein Ergebnis der mir bekannten Forschungsberichte. »Und über Nicholas sagt das auch einiges aus.«
»Er ist also auch ein Medium?«, fragte Steven.
»Mit hoher Wahrscheinlichkeit. Ich würde sogar sagen, wenn er eine Unterhaltung mit Eric führen kann, muss er außergewöhnlich begabt sein, und dann hat er bestimmt auch schon anderes gesehen.«
»Erics Freunde«, sagte Gil.
»Und Hatchet Jack«, schloss ich.
»Dann erklär mir bitte, wieso wir jetzt heimfahren«, wollte Gil wissen.
Ich lehnte mich müde zurück. »Weil Eric heute Nacht nicht an mir interessiert war. Er wollte lieber mit seinem Freund spielen. Der arme Junge ist einen grausigen Tod gestorben und wird regelmäßig von diesem durchgeknallten Jack gejagt. Ich dachte, er kann die Auszeit mit Nicholas sicher brauchen. Außerdem können wir morgen wieder hinfahren und selber mit Nicholas reden. Er könnte eine Menge über das Bürschchen wissen. Wer weiß, was sie sich
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