Gesponnen aus Gefuehlen
Tassen. Nathan goss das heiße Wasser darüber und rührte ihr Zucker und Milch hinein. Genauso, wie sie es mochte.
Nebeneinander setzten sie sich an den Tisch. Gedankenverloren zupfte Lucy an einer trockenen Scheibe Toast.
»Es tut mir leid, dass du nicht zu der Beerdigung von Madame Moulin gehen kannst«, brach Nathan das Schweigen.
Lucy erstarrte und sagte: »Sie hätte gewollt, dass ich mich in Sicherheit bringe. Zu ihrem Grab kann ich später immer noch.« Sie schwieg und sah Nathan nicht an. »Wenn das alles vorbei ist.«
»Sie war wie eine Mutter für dich, oder?«
»Ja, das war sie.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, Sofia zu verlieren«, sagte Nathan.
Lucy sah zu ihm. »Sofia?«
»Sie hat mich großgezogen. Sie und ihr Mann arbeiten für meinen Großvater. Nachdem meine Eltern mich verlassen haben, hat sie sich um mich gekümmert.«
»Besonders gut hat sie das nicht gemacht«, sagte Lucy spitz, konnte sich ein Lächeln aber nicht verkneifen.
»Du bist immer noch ganz schön frech.« Nathan grinste zurück. »Das spricht auch nicht gerade für eine gute Erziehung.«
»Hat sie dir etwas über deine Eltern erzählt?«, fragte Lucy.
»Das hat mein Großvater ihr verboten. Als ich klein war, habe ich versucht, mehr zu erfahren. Aber sie hat immer eisern geschwiegen.«
»Denkst du, sie weiß, weshalb sie dich zurückgelassen haben?«
»Mein Großvater hat gesagt, dass sie mich nicht wollten. Daran habe ich nie gezweifelt«, stellte Nathan mit einer Härte in der Stimme klar, die Lucy vor weiteren Fragen zurückschrecken ließ.
Merkwürdig, wie ein so kurzer Satz, die gerade entstandene Vertrautheit wegwischen konnte, dachte Lucy und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie überlegte, ob sie aufstehen sollte, als Nathan wieder zu sprechen begann.
»Sofia wollte nicht, dass ich zum Perfectus geweiht werde. Sie hat sich in all den Jahren nicht zu meiner Ausbildung geäußert. Aber am Tag meiner Weihe hielt sie es für notwendig, mir zu sagen, dass es nicht recht sei, was wir tun.«
»Die Warnung kam etwas spät.« Lucy versuchte, den Kommentar nicht zu sarkastisch klingen zu lassen.
Nathan ging auf ihren Tonfall nicht ein. »Ich frage mich, weshalb sie es mir überhaupt sagte. Es war immer klar, dass ich meinem Großvater folge. Meine Weihe kann sie nicht überrascht haben. Aber sie war tatsächlich bestürzt.«
Nathan versank in brütendes Schweigen und Lucy, die nichts zu erwidern wusste, trank langsam ihren Kaffee und musterte Nathan dabei.
»Das klingt, als ob sie mehr weiß, als du bisher geglaubt hast«, sagte sie nach einer Weile. »Kannte sie deine Eltern?«
»Ja«, antwortete Nathan. Seine Stimme klang abweisend. »Sie und ihr Mann Harold sind seit vierzig Jahren bei meinem Großvater. Sie kannten meinen Vater schon als Kind.«
»Und sie hat nie etwas über ihn erzählt?« Lucy schüttelte den Kopf. »Da müssen die Anweisungen deines Großvaters ja eindeutig gewesen sein.«
Nathan nickte. »Als ich jünger war, habe ich manchmal von meiner Mutter geträumt. Ich konnte sie nicht deutlich sehen, aber sie summte immer ein Lied. Ich war vier Jahre alt, als sie mich verließen. Früher habe ich gedacht, dass in meinem Kopf mehr Erinnerungen sein müssten. Aber da war nichts.«
»Das tut mir leid.«
»Das muss es nicht«, fuhr Nathan auf und griff nach seiner Jacke. »Ich habe sie nicht vermisst.«
Lügner, dachte Lucy, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar.
Eingehüllt in ihre dicken Jacken und mit warmen Socken an den Füßen verließen sie am frühen Nachmittag die Hütte.
»Wir sollten in der Nähe bleiben. Sammle ein paar trockene Stöcke. Ich hoffe, wir werden das Feuer irgendwie ankriegen«, sagte Nathan.
Erstaunt sah Lucy ihn an. »Du lässt mich allein Holz suchen? Keine Angst, dass ich weglaufe?«
»Wo willst du hin, Lucy? Warst du bei den Pfadfindern oder was? Der nächste Ort liegt mehr als zwanzig Meilen entfernt. Viel Spaß dabei und keine Angst, ich lass dich nicht aus den Augen. Aber es hat wenig Sinn, Händchen haltend Holz zu sammeln. Also beeil dich, es ist eiskalt. Ich suche auf der anderen Seite.«
Lucy verkniff sich eine Antwort und schlug sich in das Unterholz des Waldes. Die Stöcke, die sie fand, schichtete sie in ihrer Armbeuge. Als sie mehr gesammelt hatte, als sie tragen konnte, ging sie zurück ins Haus und lud das Holz neben dem Ofen ab. Nathan war nirgendwo zu sehen. Langsam lief sie den Pfad entlang und hielt nach ihm
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