Gesponnen aus Gefuehlen
schnappte sie sich zwei Kerzen und verschwand in dem Schlafzimmer. Kurze Zeit später ging sie ins Bad. Neben dem Waschbecken stand ein Holzeimer gefüllt mit frischem Wasser. Obwohl es eiskalt war, wusch Lucy sich notdürftig, putzte sich ihre Zähne und kämmte sich das Haar. Wenigstens hatte Nathan an Zahnputzzeug und Seife gedacht. In dem trüben Spiegel sah sie danach beinahe wieder wie ein Mensch aus. Ihre Verbände hatte sie für die Prozedur von den Händen wickeln müssen, und obwohl sie noch schmerzten, sah die frische Haut auf den Handflächen robust aus. Lucy überlegte kurz und entschied, sie nicht mehr zu verbinden.
Dann legte sie sich ins Bett und zog die Decke über sich. In der Kommode, die in dem Zimmer stand, hatte sie ein paar Bücher entdeckt. Vermutlich waren diese für einsame Wanderer gedacht. Sie musste sich dringend ablenken, die Untätigkeit und die ständigen Streitereien mit Nathan zermürbten sie. Sie sehnte sich danach, etwas zu tun, was sie weiterbrachte. Irgendetwas, das den Büchern helfen konnte. Stattdessen saß sie hier fest, mit Nathan, der sie gleichzeitig anzog und abstieß.
Sie hatte sich gerade in die Lektüre von Zafóns The Shadow of the Wind vertieft, als die Tür klappte und Nathan hereinkam.
Lucy sah auf. »Was willst du?«, fragte sie.
»Schlafen, was sonst?«
»Ja wohl nicht wieder hier«, widersprach Lucy.
Nathan sah sich suchend um. »Wo sonst?«
Sie presste die Lippen zusammen. »Dann geh ich in die Küche.«
Nathan seufzte. »Wenn du meinst. Spielen wir noch mal dasselbe Spiel.« Er grinste. »Kann ich aufs Anbinden verzichten oder stehst du auf Fesselspiele?«
»Idiot«, erwiderte Lucy und schlüpfte in ihre Schuhe. In der Küche zog sie ihre Jacke an und setzte sich auf einen der Stühle.
Eine halbe Stunde später war sie durchgefroren. Das hatte sie von ihrem verdammten Stolz. Bis zum Morgengrauen hielt sie nicht durch. So schlimm war es mit Nathan nicht gewesen. Er sollte ihr bloß nicht zu nah kommen.
Auf Zehenspitzen schlich sie ins Schlafzimmer.
»Schon wieder da«, murmelte er, als sie unter die Decke schlüpfte. Die Wärme hüllte sie ein. Es sollte ihr unangenehm sein. Lucy erwischte sich bei dem Gedanken, näher an ihn heranzurücken. Das durfte sie nicht denken, schalt sie sich. Um sich abzulenken, zündete sie eine Kerze an und begann zu lesen. Leicht fiel ihr das nicht. Nathan beanspruchte eindeutig zu viel Platz in dem Bett. Immer wieder glitten Lucys Gedanken zu dem Morgen, als sie in seinen Armen erwacht war. War das wirklich erst vor so kurzer Zeit gewesen?
»Liest du mir vor?«, unterbrach Nathan ihre Gedanken.
»Warum?«, fragte sie überrumpelt und betrachtete Nathans Rücken.
»Wie heißt das Buch?«, kam seine Gegenfrage.
» The Shadow of the Wind . Es ist von Zafón. Kennst du es?«
»Nicht wirklich.«
»Was liest du gern?«, fragte sie.
»Nichts.«
»Nichts? Das verstehe ich nicht.«
»Wie so vieles.«
Beleidigt wandte Lucy sich um, und versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren.
»Entschuldige«, erklang es hinter ihr. »Ich kann keine Bücher lesen. Die Gabe ist, wenn man so will, auch ein Fluch. Wenn ich ein Buch lese, kann ich nicht kontrollieren, ob ich es auslese oder nicht. Der Text verschwindet und wenn es kein Schutzbuch gibt, wissen die Wörter nicht wohin. Die einzigen Texte, die ich lesen kann, sind die in den Büchern, die wir gerettet haben. Es könnte mir egal sein. Ich meine, wie wertvoll ist schon ein Buch von Zafón? Aber sogar mir missfällt die Vorstellung, dass der Inhalt eines Buches schutzlos umherirrt.«
»Die Wörter schweben einfach ins Nirgendwo davon?«, fragte Lucy schockiert.
»Nicht irgendwohin«, antwortete er. Bei seinem Tonfall sah Lucy alarmiert auf.»Sie werden zu Buchgeistern.«
»Was sind Buchgeister, Nathan?«, fragte Lucy alarmiert. Im Grunde kannte sie die Antwort längst.
»Zornige schutzlose Texte«, antwortete er. »Gruselige Gestalten, getrieben von Rache.«
»Ich habe sie gesehen«, sagte Lucy und selbst unter der Decke wurde ihr eiskalt. »Zweimal. Sie haben mir gedroht.«
»Sie sprechen mit dir?«
Lucy nickte.
»Sie geben uns die Schuld, an dem, was sie sind«, erkläre Nathan langsam.
»Damit haben sie ja nicht so unrecht. Aber was wollen sie von mir?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Nathan. »Vielleicht auch, dass du ihnen hilfst?«
»Aber wie kann ich das? Weißt du es?«
»Nein.« Die Antwort kam kurz und hart über Nathans Lippen.
Lucy beschloss,
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