Gesponnen aus Gefuehlen
sei vernünftig«, hörte sie Nathan hinter sie. Doch sie ging weiter, immer tiefer hinein.
Langsam streifte sie zwischen den Regalreihen entlang. So viele Bücher staunte sie. Das hatte sie nicht erwartet. Bücher in wunderschönen Einbänden. Bücher, deren Titel sie noch nie gehört hatte. Ab und zu strich sie über einen Buchdeckel. Dann und wann nahm sie eins der Bücher in die Hand und schlug es auf. Jedes Buch begrüßte sie auf andere Weise. Mal war es ein leises Hallo, mal ein schüchternes Lächeln, das sie spürte. Einmal war es ein brummiges Wurde-auch-Zeit und einmal ein Kichern, als würde sie das Buch kitzeln. Am liebsten hätte sie jedes einzelne Buch berührt. So viele Worte, die in diesen unterirdischen Gewölben gefangen waren.
Lucy wusste, dass es vernünftiger war zu gehen. Aber es erschien ihr unmöglich, die Bücher allein zu lassen. Zweifellos dachten sie, sie war gekommen, um sie zu befreien.
Sie drehte sich zu Nathan um. »Sie haben dir geholfen, die Tür zu öffnen, oder?«
»Dir, Lucy. Sie haben dir geholfen. Ich schätze, für mich allein hätten sie keinen Finger gerührt.«
Lucy lächelte ihn an. »Ich glaube, du unterschätzt dich.«
»Sie haben Angst vor mir«, stellte Nathan klar.
»Spürst du das?«, fragte Lucy.
Nathan nickte langsam, als würde ihm die Bedeutung dessen gerade erst klar werden. »Sie teilen ihre Gefühle mit mir?«, fragte er.
»Ja, und das bedeutet, dass sie beginnen, dir zu vertrauen.«
»Es sind keine angenehmen Gefühle.«
»Ich weiß«, antwortete Lucy niedergeschlagen. »Können wir denn nichts tun?«
»Im Moment nicht, Lucy. Wir müssen weg, aber wir kommen wieder, das verspreche ich, und dann werden wir jedes einzelne von ihnen freilassen und den Menschen zurückgeben. Dann wird es vorbei sein, ein für alle Mal. Aber wenn Batiste uns jetzt findet, haben die Bücher keine Chance.«
»Du hast recht«, sagte Lucy, machte aber immer noch keine Anstalten zu gehen. Die Enttäuschung, die ihr entgegenprallte, war so stark, dass sie ihr körperliche Schmerzen bereitete. Stöhnend hielt sie sich an einem der Regale fest. Nathan trat zu ihr und schlang seine Arme um sie. Bevor er sie aus dem Gewölbe führen konnte, zog Lucy den Ärmel ihrer Bluse beiseite. Gleißendes Licht pulsierte aus ihrem Mal heraus. All ihre Kraft und ihre Hoffnung legte Lucy in den warmen Schimmer. Das Leuchten bahnte sich seinen Weg durch die Räume, die übervoll waren von Büchern, um jedes einzelne legte es sich und spülte die Trauer und Hoffnungslosigkeit davon.
Lucy wurde in Nathans Arm immer schwächer. Sanft bedeckte Nathan das Mal mit seinen Fingern und das Licht zog sich zurück.
Lucy drehte sich zu ihm um und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. »Das muss reichen«, hauchte er in ihr Ohr. »Sie wissen jetzt, dass du sie nicht im Stich lassen wirst.« Lucy nickte und ließ sich von ihm aus dem Raum führen.
Sie kletterten über Orion, der immer noch bewusstlos auf der Schwelle lag. Nachdenklich betrachtete Nathan ihn.
»Da hat Sofia ihm einen ordentlichen Hieb verpasst.« Er prüfte die Fesseln an Händen und Füßen. »Wenn er zu sich kommt und sich verwandelt, dann gnade uns Gott. Es wäre besser, wir schieben ihn auf die Treppe und verriegeln den Zugang.
»Sofia und ich konnten ihn nicht bewegen«, erklärte Lucy.
»Dann versuchen wir es jetzt noch mal. Ich schiebe und du ziehst.«
»Das wird ziemlich unbequem sein, wenn er auf den Stufen liegt.«
Nathan sah sie verständnislos an. »Hast du jetzt Mitleid mit ihm? Sollen wir ihn ins Bett tragen und ihm die Hand halten?«
Lucy schüttelte grinsend den Kopf. »Ich meine ja bloß.«
Sie stieg über Orion hinweg und zog an dessen Beinen. Nathan stemmte sich gegen seine Schultern und schob. Nur langsam rutschte der Koloss über die Schwelle und die oberen Stufen hinunter.
Nathan und Lucy bemerkten nicht, dass Orion seine Augen aufschlug. Erst, als sich seiner Kehle ein animalisches Knurren entrang, erstarrte Lucy. Sie blickte zu Nathan, der den Mann sofort losließ.
»Komm raus da«, schrie er und reichte ihr seine Hand.
Der Mann verwandelte sich in Sekundenschnelle in das monströse Tier, das Lucy beinahe bis zur Taille reichte. Er schüttelte sich und die Fesseln lösten sich von seinen muskulösen Beinen. Mit hochgezogenen Lefzen versperrte er Lucy den Weg. Verzweifelt presste sie sich an die Wand des Ganges. Der Hund schnappte nach ihrem Bein und grub seine Zähne in ihr Fleisch. Nathan versetzte ihm
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