Gesprengte Ketten
mitkommen würden. "Jessica hat letztes Jahr schon an diesen Reiterferien teilgenommen", fügte sie hinzu. "Du kannst ja mal mit ihren Eltern darüber sprechen, Papa."
"Ich habe nichts dagegen, Charlotte", sagte Gertrud Ravens. Sie wandte sich an Laura: "Was meinst du dazu?"
"Laura ist bestimmt dagegen", warf Charlotte ein. "Sie macht doch schon wieder ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter."
Laura hatte sich schon oft gefragt, weshalb sich ihre Schwester ständig gegen sie stellte. Früher hatten sie ein sehr gutes Verhäl tnis zueinander gehabt. Erst in den letzten Jahren hatte sich das geändert. Sie hatte schon oft versucht, mit Charlotte darüber zu reden. "Was sollte ich gegen deine Reiterferien haben, Charlotte?", fragte sie. "Mir ist es heute nur nicht besonders gut."
"Was soll ich da erst sagen", meinte Gertrud Ravens. "In de inem Alter hatte ich noch mehr Elan."
"Man kann sich seine Beschwerden auch einbilden", bemerkte ihr Mann. "Du solltest dich zusammenreißen, Laura."
Laura antwortete nicht. Die Unterhaltung bei Tisch plätscherte nur noch an ihr vorbei. Sie bekam kaum noch etwas davon mit, weil sie mit ihren Gedanken bei Jannic war. Im Grunde genommen konnte sie ihn verstehen. Wie oft hatte sie ihn vertröstet, weil sie wegen ihrer Familie keine Zeit für ihn gehabt hatte. Und er hatte dieses Theater sehr lange mitgemacht. Ich sollte ausziehen, dachte sie, irgendwohin ziehen, wo mich meine Familie nicht erreichen kann.
"Laura, wo bist du nur mit deinen Gedanken?", fragte ihre Mutter.
Die junge Frau schreckte auf.
"Schaust du dir nachher mit uns den Krimi an?"
"Nein, Mama, ich habe noch zu tun." Laura wandte sich an ihre Schwester: "Heute Abend musst du bitte das Geschirr abwaschen, Charlotte. Ich habe keine Zeit."
"Und das alles nur wegen deiner schlechten Laune", maulte die Sechzehnjährige missmutig.
Laura antwortete ihr nicht. Sie stellte ihr Geschirr in den Ausguss und ging in ihr Arbeitszimmer. Ganz bewusst drehte sie den Schlüssel im Türschloss herum. Sie wollte an diesem Abend so wenig wie möglich von ihrer Familie hören und sehen.
Lange halte ich das nicht mehr aus, dachte sie, als sie sich an ihren Schreibtisch setzte. Sie schloss die Augen. In Gedanken packte sie ihre Sachen und ging fort, weit fort, dennoch wusste sie gleichzeitig, dass sie es nicht fertig bringen würde, ihre Mutter im Stich zu lassen.
* * *
Es kam nicht oft vor, das Jannic Eckstein joggen ging, doch an diesem Abend hatte er das Bedürfnis, all seine Wut und seine Enttäuschung aus seinem Körper zu treiben. Der Tag im Büro war für ihn eine einzige Qual gewesen. Auch wenn er sich einzureden versuchte, dass er Laura vergessen musste, er wusste, es würde alles andere als einfach sein. Nach wie vor liebte er die junge Frau. Am liebsten wäre er zu ihr gefahren und hätte sie gebeten, mit ihm zu gehen. Sie mussten nicht in Burghausen leben, sie konnten überall auf der Welt glücklich sein. Seine Eltern würden ihm da keine Schwierigkeiten machen. So sehr sie ihn auch lie bten, sie hatten ihn niemals als ihren alleinigen Besitz betrachtet. Laura würde nicht mit ihm gehen, da war er sich sicher. Ihre Familie kam bei ihr immer an erster Stelle.
Der junge Mann rannte am Haus von Dr. Marquard vorbei und bog in einen Feldweg ein. Nach wie vor war er mit den Gedanken bei Laura. Er musste einen Schlussstrich ziehen, sonst wurde er seines Lebens nicht mehr froh. Etwas anderes blieb ihm nicht ü brig, wenn er sich nicht selbst aufgeben wollte.
"Amos!", hörte er eine helle Kinderstimme rufen.
"Amos, komm her!", schrie eine zweite Stimme.
Jannic wandte sich im Laufen um. Er sah einen braunen Hund den Feldweg entlang rennen. Zwei kleine Mädchen folgten ihm. Mitten in der Bewegung stoppte der Hund und kehrte um. Bereits im nächsten Moment fühlte Jannic, wie er mit der rechten Fußspi tze gegen etwas Hartes prallte. Er stolperte und stürzte hin. Verflucht!, dachte er.
"Papa, da ist ein Mann hingefallen!", hörte er eines der Mä dchen rufen.
Der junge Mann kam auf die Beine. Seine Jogginghose wies am rechten Knie einen großen Riss auf. Blut sickerte hindurch. Er wunderte sich, dass er keinen Schmerz spürte. Seine Handflächen waren aufgeschürft. "Das hat sich gelohnt", sagte er zornig zu sich selbst.
"Haben Sie sich etwas getan, Herr Eckstein?"
Jannic hob den Kopf. "Doktor Marquard, wo kommen Sie denn her?", fragte er verwundert. Sein Blick fiel auf die beiden Mä dchen und den Hund. Alle drei schauten
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