Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
seinem armen Pflege-Neger, und zwar unter konsequentem Verzuckern aller Schwierigkeiten. Wahrscheinlich deshalb war er in Frankreich und Deutschland ein großer Kinoerfolg. Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Wolfgang Schäuble vermutlich auch. Was er 2011 für Probleme mit seiner Rollstuhlexistenz hatte, war ja öffentlich mit erlebbar. Also: ein Leben im Rollstuhl ist kein Honiglecken, man sollte es seinem schlimmsten Feind nicht wünschen. Augenblicke und oft sogar Phasen der Verzweiflung, der Wut über dieses Schicksal und des Neides auf jeden Fußgänger gibt es immer wieder. Egal ob es um Freizeitgestaltung geht, um Dienstreisen, um Sex oder um einen ganz normalen Einkaufsbummel am Samstagvormittag in der Innenstadt – man ist immer zweiter Sieger. Nichts ist selbstverständlich, alles muss erkämpft, alles der Behinderung abgetrotzt werden. Und wenn ich gelegentlich auf Nachfragen antworte, danke, ich kann nicht klagen, ich war schon beim Hochseefischen und beim Tiefseetauchen und habe die Wüste Gobi durchquert und den Dalai Lama im Himalaja besucht, dann stimmt das zwar, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Kleiner Einschub: Dass der Mensch nicht für den Rollstuhl gemacht ist, zeigen schon die vielen Sprichwörter,in denen die unteren Extremitäten eine entscheidende Rolle spielen. Man fällt oder kommt wieder auf die Füße. Man steht mit dem falschen Fuß auf oder für etwas gerade. Man tritt jemandem auf den Schlips, ans Schienbein oder in den Arsch. Und so weiter. Da muss unsereiner zwangsläufig umdisponieren.
Es gibt nicht wenige Rollstuhlfahrer, die an ihrem Schicksal verzweifeln. Von den acht Leuten, die damals in Heidelberg mit mir im Zimmer lagen, haben sich drei das Leben genommen. Aber es gibt auch welche, die an ihrem Schicksal wachsen. Und manchmal ist ein Rollstuhl ja auch nützlich. Als Alleinstellungsmerkmal zum Beispiel. Die meisten Leute merken sich den Rollstuhl leichter als mich. Willy Hochkeppel, mein Kollege beim Bayerischen Rundfunk, sagte mal zu mir: »Mensch, Reiter, sei froh, du bist wenigstens unverwechselbar.« Oft waren Leute nett zu mir, die eigentlich den Rollstuhl gemeint haben: Johannes Paul II. ging bei seinem ersten München-Besuch 1980 auf mich zu und legte mir segnend die Hand auf den Kopf, Bill Clinton und sogar Michael Jackson haben mir die Hand geschüttelt und alles Gute gewünscht, einfach so. Rudolf Scharping sah mich einmal vor dem Landesfunkhaus in Magdeburg, blieb stehen und fragte jovial: »Wie kommen Sie denn so zurecht im Rollstuhl?« – »Geht schon«, sagte ich, »ich bin der Intendant.« Das war ihm peinlich.
Das Verhalten Dritter ist ohnehin ein Kapitel für sich. Es variiert zwischen krampfhaftem Übersehen und bemühter Lockerheit (»Ach, das ist wohl die Bremse?«) Auch spontane Zuwendung kommt vor. In einem Münchner Lokal gewann ein Mann am Spielautomaten eine Handvoll Münzen. Auf dem Rückweg zu seinem Tisch blieb er neben mir stehen, sah mich nachdenklich an und sagte: »Da, das ist für dich, du bist ein armer Hund.« Ich fand das nett von ihm und habe das Geld genommen. In Amerika wird mir manchmal sogar ein gewisses Heldentum unterstellt. Obwohl ich wirklich nie in Vietnam gekämpft habe, wurde mir diesbezüglich schon lobend auf die Schulter geklopft. Hier in Leipzig hat mich einmal ein alter Mann gefragt: »Das ist wohl vom Krieg?«
Überhaupt das Mitleid. Ich weiß, dass es viele Behinderte gibt, die sich Mitleid strikt verbitten. Sie fühlen sich dadurch offenbar herabgesetzt und auf ihren Defekt reduziert. Ich habe das nie so recht verstanden. Es ist doch etwas Positives, wenn jemand auf Leid oder Unglück seiner Nächsten nicht mit Desinteresse, sondern mit Mitgefühl reagiert. Man kann ihm dann ja erklären, dass es nicht nötig sei, aber an der Reaktion selbst kann ich nichts Schlechtes finden. Kürzlich gab es in einem Behindertenblog eine hitzige Debatte über die Formulierung, jemand sei »an den Rollstuhl gefesselt«. Fast alle Rollstuhl-Blogger verbaten sich dieses Bild entschieden und verlangten von den Zeitungsredakteuren, solche »diffamierenden« Äußerungen zu unterbinden. Warum eigentlich? Was ist denn so falsch daran? Ich fühle mich durchaus an den Rollstuhl gefesselt. Jedenfalls komm ich nicht nach Belieben aus ihm raus. Vielleicht sollten wir ein wenig souveräner mit unserer Lage umgehen und nicht hinter jeder ungeschickten Formulierung einen Verstoß gegen die Menschenwürde wittern. Die meisten Leute sind uns
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