Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
zustande. Wir zogen am Vorabend mit dem Maestro durch das wieder geöffnete Brandenburger Tor, und er ließ dann im Konzert statt »Freude, schöner Götterfunken« »Freiheit, schöner Götterfunken« singen. Danach haben wir mit Bernstein und seiner gesamten Entourage im Hotel Kempinski am Kurfürstendamm gefeiert. Es wurde gespeist und viel getrunken, der Maestro war bester Laune, und am späteren Abend hatte ich eine denkwürdige Begegnung mit ihm. Er kam zufällig an meinem Platz vorbei, sah mich an, beugte sich zu mir herunter – und küsste mich. Aber wie! Zunge! Ich erstarrte. Nicht aus moralischen Gründen, sondern vor Schreck. Die Schockstarre verhinderte, dass ich angemessen auf seine Zuneigung reagieren konnte. Der Maestro war offensichtlich enttäuscht und zog sich mit einem verächtlichen Blick zurück. Das tut mir heute noch leid. Einen Leonard Bernstein weist man nicht ab. Zum Glück war er nicht nachtragend. Beim nächsten Schleswig-Holstein-Musikfestival verschaffte er mir den größten Egoboost meiner jungen Karriere. Ich saß bei einem der berühmten Scheunenkonzerte in der ersten Reihe. Festliche Stimmung. Alles wartete auf den Maestro. Dann kam er. Schwarzer Smoking, rotes Einstecktuch, roter Seidenschal. Aufbrausender Beifall. Er winkt ab, sieht mich in der ersten Reihe sitzen und ruft laut: »Oh my friend Judo!« Obwohl ich ihn nicht zurückgeküsst hatte. Später habe ich erfahren, das Bernstein für seine Kuss-Attacken berüchtigt war. Vor einer Papst-Audienz hat ihm daher ein Freund geschrieben: »Denk dran, Lennie, den Ring, nicht die Lippen!«
Als Justus Frantz dem Bayerischen Rundfunk wieder den Rücken gekehrt hatte, machte man sich beim BR über meine ambitionierte Personalpolitik lustig. »Der Reiter hat zwei neue Leute engagiert«, hieß es, »Alfons Schubeck für die Kantine und Niki Lauda für die Tiefgarage.«
Ein Problem für die Klangkörper war, dass der Intendant Reinhold Vöth die echte bayerische Volksmusik liebte, aber nie in ein Konzert seines Symphonieorchesters ging. Colin Davis war zunehmend beleidigt. Das Nicht-Verhältnis drohte zum Thema zu werden. Ich lud deshalb die beiden zu einem Abendessen ein. Möglicherweise, wenn sie sich persönlich näherkämen … Es ging ganz gut. Beide tranken zum Glück gern und viel, so dass die Stimmung zunehmend entspannter wurde. Schon leicht lallend, sagte schließlich Colin Davis zu Vöth: »Wissen Sie eigentlich, dass ich der größte lebende Dirigent der Missa Solemnis bin?« Darauf Vöth: »Das kann schon sein, aber ich spiel besser als Sie die diatonische Ziehharmonika«. Die beiden kamen sich an diesem Abend menschlich näher. In die Konzerte ging Vöth trotzdem nicht.
Deutschland, einig Vaterland
Der Fall der Mauer und die anschließende Wiedervereinigung hat nicht überall Begeisterung ausgelöst. Als wir in der Direktorensitzung beim Bayerischen Rundfunk das erste Mal darüber sprachen, meinte Wolf Feller, der Fernsehdirektor, der viele Jahre Korrespondent in Rom gewesen war: »Ich bin auch für die Wiedervereinigung – aber mit Südtirol.« Bei mir war das anders. Ich hielt die Teilung Deutschlands immer für ein Unglück. Als ich in Berlin studierte und mit meinem alten VW-Käfer erstmals durch die DDR fuhr und die Wegweiser »Dresden«, »Leipzig«, »Magdeburg«sah, gab es mir einen Stich. Ich erinnere mich noch genau. »Das ist doch Deutschland«, dachte ich mir, »und das kennst du nicht.« Ich habe dann in den folgenden Jahren dreimal Urlaub in der DDR gemacht. Das war für jemanden, der dort keine Verwandten hatte, ungewöhnlich und auch nicht ganz einfach. Man musste lange vorher einen Antrag mit genauem Reiseziel stellen und sich dann strikt an die von den DDR-Behörden genehmigte und in den Pass eingestempelte Route halten. Aber es ging. Damals kam ich zum ersten Mal nach Weimar, auf die Wartburg, nach Dresden und nach Leipzig. Dass dies einmal mein Sendegebiet und sogar meine Heimat werden sollte, war außerhalb jeder Vorstellung. Meine Frau war von diesen Ost-Urlauben nur mäßig begeistert. Sie wollte lieber nach Italien und hat mir beim dritten Mal mit Scheidung gedroht. Ich habe nachgegeben und bin an den Lago Maggiore gefahren.
Dafür beschäftigte ich mich ausführlich mit DDR-Literatur und gehörte zu den wenigen im Westen, denen Erwin Strittmatter, Hermann Kant oder Brigitte Reimann
ein Begriff waren. Dieses Ost-Interesse hat dazu geführt, dass ich immer die obligatorischen Kommentare zum 17.
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