Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
ja, das ist jedenfalls meine Erfahrung, durchaus wohlgesonnen und hilfsbereit. Und manchmal wirken wir eben etwas befremdlich und überfordern die Reaktionsmuster unserer Mitmenschen. Schon die Frage, ob man sich mit einem Rollstuhlfahrer von oben herab unterhalten darf oder ob man sich zum Herstellen der Augenhöhe niederkauern muss, ist für Außenstehende schwer zu entscheiden und birgt ideologische Fallstricke. Hier ist ein wenig Mitleid unsererseits mit dem armen Gegenüber nicht verkehrt, zumal es in diesem Fall keine einfache,für jede Situation gültige Antwort gibt. Oder die Frage, ob man über behindertenspezifische Sachverhalte als Nichtbehinderter lachen darf. Ich erzähle manchmal den Witz: »Was ist ein Rollstuhlfahrer unter Kannibalen?« Antwort: »Essen auf Rädern.« Die meisten schauen dann ängstlich und überlegen, was die politisch korrekte Reaktion ist. Ich plädiere hier nachdrücklich für mehr Lockerheit auf beiden Seiten. Ich erinnere mich an eine Szene in einem Hotel in Amerika. Ich musste sehr früh aus dem Haus, verließ das Zimmer gegen fünf Uhr morgens und fuhr mit Schwung rückwärts in den Aufzug. Dass der Aufzug einen Defekt hatte und fünfzehn Zentimeter unter dem Etagenniveau gehalten hatte, war mir in der Eile entgangen. Ich kippte rückwärts in den Aufzug hinein, fiel nach hinten, der Rollstuhl auf mich drauf. Das Hotel war um diese Tageszeit noch menschenleer. An die Knöpfe kam ich nicht heran, also blieb ich erst mal liegen und wartete. Irgendwann setzte sich der Aufzug in Bewegung, fuhr ein paar Stockwerke tiefer und hielt. Die Tür ging auf, eine ältere Lady stand da, riss die Augen weit auf – kreischte und rannte davon. Der Anblick hatte sie überfordert. Will man ihr wirklich einen Vorwurf daraus machen?
Der Kuss des Maestros
Nochmals zurück zum Bayerischen Rundfunk. Als Hörfunkdirektor war ich automatisch Chef der drei »Klangkörper« des BR geworden, also des
Chors, des Rundfunkorchesters und vor allem des BR-Symphonieorchesters, eines Spitzenorchesters mit internationalem Renommee. 1949 von Eugen Jochum
gegründet, war bis 1979 Rafael Kubelik Chefdirigent dieses Orchesters und ab 1983, also zu meiner Zeit, Sir Colin Davis. Ich hatte von der Materie keineAhnung und überlegte, wie ich dieser Herausforderung einigermaßen gerecht werden könnte. Zu dieser Zeit feierte gerade ein junger Musiker und Musikmanager Triumphe. Er hieß Justus Frantz und hatte in Schleswig-Holstein ein Musikfestival begründet, das Medien und Publikum gleichermaßen begeisterte. Das gefiel12 mir. Ich bat ihn um einen Termin und fuhr nach Hamburg. Unser Gespräch war der Beginn einer bis heute andauernden Freundschaft. Ich habe ihn gefragt, ob
er nicht Lust hätte, beim BR »Hauptabteilungsleiter Klangkörper« zu werden. Er hat herzlich gelacht, und nach kurzer Bedenkzeit
gegen den Rat all seiner Mitarbeiter angenommen. Weil ich ihm so sympathisch gewesen sei, sagte er mir später. Beim BR war man begeistert. Justus Frantz war damals auf der Höhe seiner Popularität. Wir richteten ihm ein großzügiges Büro ein, mit weißem Flügel, und Justus kam. Das heißt, er kam gelegentlich. Es war natürlich eine Schnapsidee. Ein Mann wie er setzt sich nicht täglich in ein Büro am Rundfunkplatz und ordnet sich in die Hierarchie und die Bürokratie einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ein. Er macht auch keine Diener vor dem Rundfunkrat, so dass dieser Rundfunkrat ihm ziemlich bald ziemlich ablehnend gegenüberstand. Eines seiner Mitglieder hieß damals August Everding. Er war Intendant der Bayerischen Staatsoper und ungekrönter Herrscher der Münchner Musiksociety. Natürlich wollte er keine fremden Götter neben sich haben und witterte in Justus Frantz zu Recht eine Gefahr.
Mir war bald klar, dass das nicht lange gut gehen würde. Aber bevor es schiefging, brachten wir einige glanzvolle Höhepunkte zustande. Durch seine vorzüglichen Kontakte in die internationale Musikszene brachte Justus Frantz hochkarätige Gastdirigenten zu uns, unter anderem seinen Freund Leonard Bernstein, der ohnehin vom BR-Symphonieorchester eine hohe Meinung hatte.Ein Konzert mit ihm ging in die Geschichte ein. Nach dem Mauerfall wollten wir, das war die Idee von Justus und mir, möglichst bald mit Beethovens Neunter Symphonie ein spektakuläres Einheitskonzert im Ostberliner Schauspielhaus geben. Justus gelang es, Bernstein dafür zu begeistern, und schon Weihnachten 1989 kam das Ereignis
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