Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Begleitern so locker und fröhlich, dass die blasierten High-Society-Gäste in ihrem gesponserten First-Class-Bereich mit dem Gratis-Champagner eigentlich nur neidisch sein konnten. Ich kann das beurteilen, weil ich später selbst oft genug in diesen Nobel-Lounges geparkt wurde.
Natürlich gibt es immer individuelle Härten, natürlich wäre mehr schöner, und manches könnte noch besser sein, aber alles in allem funktioniert die Solidarität in Deutschland. Jedenfalls weit besser als in vielen anderen Ländern. Ich kenne Behindertenschicksale in der Dritten Welt, die einem das Herz brechen lassen. Dort fehlt es den Hilflosen an allem, und selbst bescheidenste Hilfsmittel, die den Leuten ein halbwegs erträgliches Leben ermöglichen würden, sind utopisch.
Nochmals zurück zum Reisen. Prinzipiell sind für Rollstuhlfahrer heute auch extreme Unternehmungen möglich. Ich habe River-Rafting auf dem Colorado River probiert, das ist die Fahrt mit einem Floß durch die Stromschnellen. Ich bin Ballon gefahren. Ich habe ein Wohnmobil, das auf Handbetrieb umgebaut war, den Pacific Highway hinuntergesteuert und vor Kuba einen zwei Meter langen Schwertfisch aus dem Meer gezogen (kein Anglerlatein, siehe Foto). Dieser Angelausflug war aus mehreren Gründen bemerkenswert. Der Freund, der mich auf dieser Tour begleitet hat, neigte leider zur Seekrankheit. Die Stunden, die es dauerte, bis der Fisch angebissen hatte, reichten aus, meinen Begleiter grün im Gesicht werden zu lassen. Als ich den Schwertfisch schließlich nach langem Kampf über der Reling hatte, rächte er sich und riss mich mit einem Ruck aus dem Rollstuhl. Ich lag am Boden, daneben der blutende, um sich schlagende Fisch und an der Reling mein kotzender Freund. Eine Angelidylle, die man nicht vergisst. Aber, und darauf kommt es an, es ging. Genauso wie ein anderer Angelausflug nach Irland. Eine Woche lang habe ich dort auf dem Shannon in einem Motorboot gelebt und selbst den Kapitän gegeben. Man muss ein Boot mieten, das für Rollstuhlfahrer umgebaut ist; eine Fahrerlaubnis braucht man nicht. Andere Rollstuhlkollegen haben mir erzählt, dass mit einem speziellen Skibob auch das Skifahren wieder möglich sei, und sogar das Klettern mit einer Spezialeinrichtung ist nicht ausgeschlossen. Ich will damit nicht sagen, dass es ein Traum ist, im Rollstuhl zu verreisen. Aber man muss auch nicht von vornherein darauf verzichten, wie ich am Anfang vermutet hatte.
Der Kirchturm von Gottscheina
Seit 1994 lebe ich in Gottscheina, einem kleinen Dorf im Nordosten von Leipzig. Es gibt ein paar Dinge, die Gottscheina auszeichnen. Zum einen ist es eines der wenigen erhaltenen Ringdörfer in Sachsen und steht daher unter Denkmalschutz. Ein Graben und eine Lehmmauer ziehen sich um das ganze Dorf, eine einzige Stichstraße führt hinein. Nur drei Häuser liegen außerhalb des Rings, das Wirtshaus, das Armenhaus und die Schule. In dieser Schule, einem Ziegelbau aus dem Jahr 1868, wohne ich. Das klingt gewaltig, aber es war eine Zwergschule. Wo heute meine Küche ist, war das einzige Klassenzimmer. Zum anderen ist Gottscheina seit 1438 eines der drei Leipziger »Universitätsdörfer«, es gehörte der Universität, die sich unter anderem von den Erträgen dieser Dörfer finanzierte. Diese Erträge müssen ganz ordentlich gewesen sein. Gottscheina bedeutet nämlich »Gottes Scheune«, ein Hinweis auf die fruchtbaren Böden dieser Gegend. Die Universität hatte auch die niedere Gerichtsbarkeit über die Dörfer, und noch heute fährt der Rektor einmal im Jahr mit einer Kutsche hinaus, um sich von den Dorfbewohnern huldigen zu lassen. Freilich nur noch symbolisch. Und etwas Drittes: Der Turm der Dorfkirche von Gottscheina passt stilistisch nicht ganz zur übrigen Kirche. In einer alten Chronik kann man lesen, dass er 1892 nachträglich errichtet wurde, weil der alte baufällig gewesen sei. Gestiftet habe den neuen Turm der Leipziger Maschinenfabrikant Karl Krause. Dr. Pasch, der im MDR-Rundfunkrat den Sächsischen Heimatbund vertritt, hat mir erzählt, dass Fabrikant Krause eine Tochter des Dorfes geschwängert und sich mit der Kirchturmspende freigekauft habe. Im Dorf erzählt man die Geschichte etwas anders: Er habe das Mädchen geheiratet und den Turm zur Hochzeit gespendet. Wie auch immer,ich lebe gern in Gottscheina. Mit einigen Mitbewohnern habe ich mittlerweile Freundschaft geschlossen, mit meinen Nachbarn zum Beispiel oder mit Richters, einem Arztehepaar, das mich schon öfters in
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