Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
misslichen Lagen gerettet hat, zum Beispiel am Karfreitag 2011, als sich im Garten ein Frettchen in meine Ferse verbissen hat und nicht mehr loslassen wollte … aber ich schweife ab.
Auch früher in Lindau und dann in München habe ich auf Dörfern gelebt. Das mag logistische Nachteile haben, aber es hat auch unübersehbare Vorzüge. In meinem Garten, dem ehemaligen Schulgarten, wachsen zahllose Wildblumen, erst Winterlinge, Schneeglöckchen und Krokusse, dann der Gelbstern, der Bärlauch, die Golderdbeere und das Wiesenschaumkraut. Erst danach beginne ich mit dem Mähen auf meinem umgebauten Traktor. Auch Vögel gibt es jede Menge. Amsel, Drossel, Fink und Star, dazu Meisen, Kleiber, Krähen, Tauben, Eichelhäher, einen Fischreiher und den Roten Milan. Wenn ich im Sommer am Morgen die Haustüre öffne, denke ich immer an die amerikanische Biologin Rachel Carson. Sie hat 1962 in ihrem Bestseller »Silent Spring« beschrieben, wie die Welt in unseren Tagen aussehen bzw. sich anhören würde. Durch den rücksichtslosen Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft würden die Vögel, so Carson, alle ausgestorben sein, ein »stummer Frühling« läge über dem Land. Die Vögel in Gottscheina singen heute so laut, dass sie fast die Flugzeuge übertönen, die zum Leipziger Flughafen hinüberfliegen. Von April bis Juni, wenn die Nachtigallen aktiv sind, gilt das auch in der Nacht. Prognosen sind eben schwierig, wusste schon Mark Twain, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.
Vom Provisorium zum ARD-Vorsitz
Der Aufbau des MDR ging voran. Die Architektenwettbewerbe für die Landesfunkhäuser und die Zentrale waren abgeschlossen. Es begann die schöne Zeit der ersten Spatenstiche. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten, die vor allem das Fernsehen betrafen, begannen auch die Programme, Tritt zu fassen. Über die inhaltliche Ausrichtung gab es naturgemäß konträre Ansichten. Sollte man mit allem, was bisher in der DDR zu hören und zu sehen war, rigoros Schluss machen? Tabula rasa und ein Neuanfang, der sich ausschließlich an Formaten, Standards und Gewohnheiten des Westens orientierte? Dafür sprach ja einiges. Vor allem von den Opfern des alten Systems wurden wir bestürmt, keinen Rundfunk- und Fernsehstein auf dem anderen zu lassen und jeden, aber auch jeden Anklang an die alten DDR-Programme auszumerzen. Auch gegen die ehemaligen Programm-Macher aus der Nalepastraße und aus Adlershof wurde Stellung bezogen. Sie hätten in dem neuen Sender nichts mehr zu suchen, man habe schließlich nicht Revolution gemacht, damit anschließend die alten Genossen wieder an die Schalthebel kämen. Solche und ähnliche Positionen musste ich mir oft anhören. Bei unserem nördlichen Brudersender, dem Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg, der später mit dem Sender Freies Berlin (SFB) zum Rundfunk Berlin – Brandenburg (RBB) verschmolz, wurde die »Programmreinigung« ziemlich rigoros durchgezogen. Allerdings mit dem Ergebnis, dass vielen Leuten dort das Hören und Sehen verging. Mir hat dieser puritanische Kurs von Anfang an nicht eingeleuchtet. Warum sollte man den Menschen im Osten, die damals wahrlich genug Änderungen zu verkraften hatten, auch noch ihre vertrauten Unterhaltungsformate und die dazugehörigen Moderatoren nehmen? Natürlich mussten dieInformationssendungen neu gemacht werden, einen Karl-Eduard von Schnitzler mit seinem Schwarzen Kanal wollte niemand mehr, aber den Kessel Buntes, ein paar altgediente Schlagersänger oder Klänge aus dem »Arzgebirch« (Erzgebirge), warum denn nicht? Man hat mir damals entgegengehalten, dass auch Unterhaltung politisch sei und dass man gerade wegen der versteckten Propagandawirkung solcher Sendungen besonders vorsichtig sein müsse. Das ist natürlich nicht ganz falsch, war mir aber in unserer Situation entschieden zu einseitig. Ich habe nach langen Debatten entschieden, dass in Politik, Wirtschaft, Kultur und Information das Programm neu aufzulegen sei, dass die gewohnten Unterhaltungssendungen aber überprüft und nach Möglichkeit fortgesetzt werden sollten. Das Publikum hat uns das gedankt, der Unterhaltungschef, ein gewisser Herr Foht, weniger. Darauf komme ich noch zurück.
Auch beim Personal schien mir die Forderung nach einem radikalen Neuanfang aberwitzig. Abgesehen davon, dass es mangels Masse gar nicht möglich gewesen
wäre, hat mir auch nicht eingeleuchtet, warum man die Mitarbeiter des DDR-Fernsehfunks dafür bestrafen sollte, dass sie in den
letzten vierzig Jahren
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