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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Reiter
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Kauf genommen. Zum Glück gab es auch Leute, die differenziert urteilten und mit denen man die komplexe Thematik vernünftig erörtern konnte. Joachim Gauck, der Vorgänger von Marianne Birthler, gehörte dazu. Er war bestimmt kein Sympathisant des DDR-Regimes und vertrat keine Schlussstrich-Positionen, aber er verstand etwas von der Sache und war für uns ein fairer und hilfreicher Gesprächspartner.
    Beim Publikum haben uns die Stasi-Diskussionen, die wir zum Teil sicher stellvertretend für die ganze Gesellschaft führten, nicht geschadet. Die Programme wurden immer erfolgreicher. 1997 war das MDR-Fernsehen erstmals das reichweitenstärkste dritte Programm in der ARD. Das ist es bis heute geblieben. Bei allen Umfragen bestätigten uns die Leute, dass sie den MDR als ihren Sender ansehen, und gaben dem Programm Bestnoten. Bei der Kritik, vor allem im Westen, sah das natürlich anders aus. Günstigstenfalls mitleidig, meistens hochnäsig und bösartig, das war der gängige Tenor, in dem über das Schmuddelkind im Osten geschrieben wurde. Den Vogel schoss im Mai 2000 Thomas Tuma im »Spiegel« ab. Sein Artikel»Mach Dich Raus!« (»MDR«) ging in die Vollen. Eine unserer Sendungen, schrieb er, wirke auf ihn, »als hätte sich das Sozialamt Chemnitz im Vollrausch eine Single-Show ausgedacht«. Ein Moderator lächle »derart melancholisch, als hätte er zeit seines Lebens die Reklamationsstelle eines Plauener Baumarkts betreut«. Eine Festhalle sehe aus, »als warte sie auf die Rückkehr Erich Honeckers«. Und überhaupt: »Wo ein Auslandsmagazin ›Windrose‹ heißt und eine Bergsteigershow ›Biwak‹, könnte es bald das Seniorenmagazin ›Gürtelrose‹ geben.« Der Artikel führte in Leipzig fast zu einer Wiederholung des Volksaufstands. Es kam schließlich zu einer öffentlichen Diskussion mit dem Autor im Leipziger Rathaus. Wolfgang Tiefensee war dabei, der damalige Oberbürgermeister von Leipzig, Leander Haußmann, der Regisseur des gerade herausgekommenen Films »Sonnenallee«, Gunda Röstel, die ostdeutsche Sprecherin des Bundesvorstands von Bündnis 90/Die Grünen und noch einige andere. Es ging hoch her, wobei mir die witzig-freundliche Art, in der Tuma seinen Spott über die »MDR-Rentner in Kunstlederjacken« in der Höhle der Ossis verteidigte, sehr gefallen hat. Ich durfte es nicht zu deutlich zeigen, aber ich fand die Veranstaltung ziemlich lustig. Und zu Tumas Ehrenrettung muss ich sagen, dass er zehn Jahre später im »Spiegel« einen zwar immer noch staunenden, aber sehr fairen Artikel über uns geschrieben hat.
    In der ARD wurden wir anfangs nicht viel besser behandelt. Man klopfte uns freundlich auf die Schulter und wünschte uns viel Glück beim Aufbau, aber wenn es ums Eingemachte ging, sprich: um Geld, Korrespondentenplätze, Sendeplätze, dann war man gleich sehr viel zurückhaltender. Vor allem die Programmgestaltung im Ersten lief weiter, als habe es eine Wiedervereinigung nie gegeben. Das war nicht Boshaftigkeit, sondern Unwissenheit und natürliche Trägheit. In den Redaktionen von Tagesschau und Tagesthemen war niemand aus dem Osten. Wie auch? Deswegen kam es vor, dass im Ersten ein Brennpunkt lief, weil im Ruhrgebiet irgendeine Firma pleitegegangen war, während bei uns gleichzeitig ganze Industrien wegbrachen. Unverständnis auch, als wir Sendezeit in der Unterhaltung haben wollten. Es gab zwar schon so ziemlich alle Formate, aber ein Boulevard-Magazin fehlte noch. Das haben wir angeboten: »Brisant«. Ungläubiges Staunen. Etwas Leichtes, Lockeres aus dem Osten? Gibt es in Leipzig denn Promis? Könnt ihr so was? Das waren die Fragen, und dann der gute Rat: Probiert es doch mal bei euch im Dritten, dann schauen wir uns das an. Wir haben uns das nicht gefallen lassen und erfolgreich Gleichbehandlung gefordert. Diese Übergangsphase dauerte nicht sehr lange. Als man merkte, dass unsere Angebote beim Publikum ankamen und vor allem dass wir Geld hatten, sie zu finanzieren, öffneten sich die Arme zunehmend. Dieser Aufnahmeprozess war auch optisch abgeschlossen, als ich zum 1. Januar 1997 einstimmig für zwei Jahre zum ARD-Vorsitzenden gewählt wurde.
    Ich habe in diesen zwei Jahren versucht, etwas voranzubringen, was mich schon lange beschäftigte und worin ich durch meine MDR-Erfahrungen bestärkt worden war: eine ARD-Strukturreform. Aus historischen Gründen bestand die ARD aus Sendern mit höchst
     unterschiedlicher Größe und Leistungsfähigkeit. Da gab es den mächtigen WDR, den NDR

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