Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Diplomatie und Eloquenz, Geschick und Diskretion, Ausdauer und Trinkfestigkeit. Man saß zusammen in wechselnden kleineren und größeren Gruppen, diskutierte, argumentierte, suchte Verbündete, baute Druck auf. Scharf wanderte zwischen den Tischen hin und her, glich aus und vermittelte. Stundenlang. Am nächsten Morgen hatte die ARD (unter starker Beteiligung des MDR) ihren Finanzausgleich, wir hatten den Kinderkanal und die meisten Anwesenden einen Kater. Inzwischen habe ich öfter darüber nachgedacht, ob es nicht gescheiter gewesen wäre, den Kinderkanal in der Nacht von Magdeburg nicht nach Erfurt zu holen. Mein letztes Dienstjahr wäre zumindest heiterer verlaufen.
Vom Schlachthof zum Medienzentrum
Wenn ich heute zurückblicke, hatten meine ersten drei Amtszeiten eindeutige inhaltliche Schwerpunkte. In den ersten sechs Jahren von 1991 bis 1997 ging es um den Aufbau des Senders. In dieser Zeit haben wir die Mitarbeiter geworben, die Programme entwickelt, die Neubauten vorbereitet, den Kinderkanal nach Erfurt geholt und die Drefa geschaffen. Der MDR wurde ARD-Mitglied und Stimme der neuen Länder im Ersten Programm.
Auch die Kontakte zu den osteuropäischen Rundfunkanstalten entwickelten sich gut. Wir schlossen Kooperationsabkommen mit mehreren Ländern, mit den Polen produzierten wir einen gemeinsamen Tatort, dort wurde auch »In aller Freundschaft« regional aufbereitet. Der Programmaustausch kam ebenso ins Rollen wie regelmäßige Seminare für junge osteuropäische Journalisten in Leipzig. Auch ungewöhnliche Geschäfte gab es. So wollten dieRumänen gern einen Tatort von uns, konnten ihn aber wegen der prekären Finanzlage ihres Senders nicht bezahlen. Sie boten uns als Honorar 10 000 Flaschen rumänischen Rotwein an. Nach einer Verkostung, es war ein »Zar Simeon Reserva«, der bekannteste Rotwein aus Rumänien, akzeptierten wir. Ein paar Wochen später fuhr ein rumänischer Lastwagen mit Anhänger auf den MDR-Hof in Leipzig und hatte tatsächlich die 10 000 Flaschen an Bord. Wir verkauften sie an unsere Mitarbeiter und verbuchten den Erlös ordnungsgemäß unter »besondere Einnahmen«. Der Pferdefuß bei dem Geschäft war allerdings, dass der gelieferte Rotwein bei weitem nicht derselbe war, den wir vorher verkostet hatten.
Ich will diese Pionierzeit nicht nachträglich verklären. Natürlich gab es auch Probleme und Krisen, aber alles in allem war der Aufbau des MDR eine Erfolgsstory in der deutschen Rundfunkgeschichte.
In der zweiten Periode, für die ich von 1997 bis 2003 mit 86,1 Prozent der Rundfunkratstimmen wiedergewählt wurde, ging es um die Konsolidierung und Stabilisierung all dessen, was wir in den Anfangsjahren aus dem Boden gestampft hatten. Wir haben die Programme weiterentwickelt, die hausinternen Strukturen und Prozesse verbessert und ein erstes Kostensenkungsprogramm aufgelegt, das uns trotz rückläufiger Einnahmen die Fortsetzung der Programmarbeit auch in den kommenden Jahren ermöglichen sollte.
In diese Zeit fiel die Fertigstellung unserer neuen Landesfunkhäuser in Dresden, Erfurt und Magdeburg und auch die Einweihung unserer neuen Zentrale in Leipzig. Auf dem Gelände des ehemaligen Vieh- und Schlachthofs, den Hugo Licht, ein bedeutender Leipziger Stadtbaudirektor, zwischen 1886 und 1888 erbaut hatte, war in einer Mischung aus alter, renovierter Bausubstanz und Neubautenein modernes Medienzentrum entstanden. Bei unserem ersten Rundgang über das Gelände brauchte man Phantasie, um sich das vorstellen zu können. Es roch bestialisch nach Schweinehaltung, an den Haken hingen noch blutige Metzgerschürzen, und einige Experten warnten uns vor möglicherweise hochgradig kontaminiertem Untergrund. Wir riskierten es trotzdem, und die Intendanz bezog relativ bald ein wiederhergestelltes Bürogebäude auf dem Schlachthofgelände, die sogenannte Schlachthof-Börse. Als Frau Czech nach wenigen Wochen die Schweinegrippe bekam, wurde mir etwas unwohl, und als mir ein paar Tage später auch noch von einem Mitarbeiter mit »Kuhseuche« berichtet wurde, sah ich den MDR schon in einem Strudel von Tierkrankheiten untergehen. Zum Glück stellte sich die zweite Krankheit als »Q-Seuche« heraus, und es konnte weitergearbeitet werden.
Die Schlachthof-Baustelle war Ende der neunziger Jahre die größte in Leipzig und nach dem Potsdamer Platz in Berlin die zweitgrößte in Deutschland. In Spitzenzeiten waren bis zu 1000 Bauarbeiter gleichzeitig beschäftigt. 50 000 Kubikmeter Beton und 8000
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