Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Tonnen Stahl wurden verbaut, 25 000 Quadratmeter Glasfassade wurde angeschraubt und 342 Kilometer Glasfaserkabel verlegt. Dann stand das Ding. Ein Großprojekt ohne Verzögerung und ohne Kostensteigerung. Am 13. Juli 2000 war Einweihung. »Freudig begrüßen wir die edle Halle«, sang der MDR-Chor vor den zahlreichen Gästen, das Fernsehballett tanzte, die Geschwister Weisheit, bekannte ostdeutsche Artisten, fuhren in einem spektakulären Drahtseilakt mit dem Motorrad zum neuen Hochhaus hinauf, die Ministerpräsidenten sprachen Grußbotschaften, ich sprach auch und bekam einen riesengroßen symbolischen Hausschlüssel überreicht (den ich 2011 an meine Nachfolgerin weitergegeben habe), die Kirchenbevollmächtigten segneten den Bau, die Post brachte eine Sonderbriefmarke heraus, es wurde gegessen und getrunken, und abends gab es ein spektakuläres Feuerwerk. Dieser Tag war der Höhepunkt meiner beruflichen Laufbahn. »Udo Reiter, der König des MDR. Jetzt zieht er mit seinem Sender in diesen prachtvollen Glaspalast in Leipzig. Eine Erfolgsstory«, schrieb die BZ, und BILD ernannte mich sogar zum »TV-König des Ostens«. Ich saß fest im Sattel, nichts schien unseren Erfolg gefährden zu können. Dass auf ein Hosianna oft ein »Kreuzige ihn« folgt, kam mir damals nicht in den Sinn.
Um das Glück vollzumachen, bin ich auch noch Professor geworden, und zwar für Radiolehre an der Fachhochschule Mittweida. Diese Hochschule Mittweida
wurde 1867 als privates Technikum gegründet und war schon einige Jahr später die größte private Ingenieurschule Deutschlands. Ihr Schwerpunkt war anfangs
der Maschinenbau, später die Elektrotechnik. In der DDR war Mittweida eine der bekanntesten Ausbildungsstätten für angehende
Ingenieure. Nach der Wende kam Medienausbildung als weiterer Schwerpunkt dazu. Ich habe versucht, den angehenden Kollegen Radiojournalismus beizubringen,
und einige Semester lang Vorlesungen darüber gehalten. Heute bin ich Mitglied im Hochschulrat. Der Professorentitel ist etwas Schönes, trotzdem finde ich,
dass man ihn nicht derart breit streuen dürfte, wie es heute in Deutschland üblich ist. Kaum ein Intendant, der ihn nicht hat. Ein böses Wort sagt, dass
jeder Spender einer ausgedienten Schneide- oder Kopiermaschine dafür mit den begehrten vier Buchstaben belohnt wird. Wie bei jeder
Inflation entwertet man damit den Kern einer Sache. Der ehrwürdige deutsche Professorentitel, der jahrhundertelang für das Ansehen und die Weltgeltung der
deutschen Wissenschaft stand, ist jedenfalls durch Leute wie mich arg in Mitleidenschaft gezogen worden.
Digitale Revolution
Für meine dritte Amtszeit wurde ich 2002 mit einem noch besseren Ergebnis wiedergewählt: 89,7 Prozent. Angela Merkel sagte damals zu mir: »Det is ja wie in der DDR.« In diesen Jahren von 2003 bis 2009 ging es um etwas Neues, das sich seit einiger Zeit auf dem Medienmarkt andeutete: die Digitalisierung. Diese Digitalisierung hat einen tiefgreifenden Umbruch in der Medienlandschaft eingeläutet. Das Wort von der »digitalen Revolution« ist nicht übertrieben. Die Medienszene verändert sich derzeit stärker und schneller als in den fünfzig Jahren zuvor. Die Digitalisierung ist im Grunde nur eine Veränderung der Technik, in der Hörfunk- und Fernsehsignale übertragen werden. Diese Veränderung bringt aber mit sich, dass erheblich mehr Programme als bisher übertragen werden können. Dies wiederum führt dazu, dass tatsächlich sehr viel mehr Programme produziert und angeboten werden, und zwar nicht mehr nur von öffentlichen und privaten Sendeanstalten, sondern von ganz anderen Anbietern: von Technologiekonzernen, Plattformbetreibern, Verlagshäusern und sogar von Finanzfonds. Auch für den Nutzer bringt die digitale Technik neue Möglichkeiten. Nicht nur dass er eine größere Auswahl hat, er kann die Programme auch zunehmend individuell abrufen. Kurz gesagt: Der Zuschauer von morgen, teils auch schon der von heute, schaut, was immer er will, wann immer er will, wo immer er will – und das bei stark vermehrtem Angebot und deutlich gesteigerter technischer Qualität.
Für uns, die öffentlich-rechtlichen Programmmacher, war das eine enorme Herausforderung. Wir mussten uns dem Wettbewerb mit den neuen kapitalstarken Konkurrenten stellen, mussten es mit jungen hochflexiblen Anbietern aufnehmen, die plötzlich von allen Seiten mit innovativenGeschäftsideen auf die Märkte drängten – und wir mussten uns auf diesem rasant
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