Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
für eine vierte Amtszeit. Man sprach mir das Vertrauen aus. Sehr überzeugend sogar, wieder mit nahezu neunzig Prozent der Stimmen. »Der ewige Intendant«, schrieb daraufhin die FAZ.
Es war ein Fehler. Man soll sein Schicksal nicht ohne Not herausfordern. Für einen Mann, der mit dreiundzwanzig Jahren durch einen schweren Unfall querschnittgelähmt wird und auf den Rollstuhl angewiesen ist, hatte ich ein ungewöhnlich glückliches und erfülltes Leben hinter mir. Wenn ich mich auf Sitzungen mitunter langweilte, schaute ich oft in die Runde und überlegte mir, mit wem von den anwesenden Fußgängern ich tauschen würde. Es war ganz selten einer dabei. Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, das Spiel nicht bis zum Äußersten auszureizen und auf die Warnsignale des Jahres 2005 zu achten. Aber nebbich. Ich war gewählt und ging erst einmal frohgemut in die neue Amtszeit.
Von meinen Studenten in Mittweida bin ich öfter gefragt worden, was denn das Erfolgsgeheimnis meiner insgesamt ja eher ungewöhnlichen Karriere gewesen sei. Ich werde dann meistens verlegen. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Ratlosigkeit. Was war es denn? Vermutlich mehrerlei. Natürlich hat Glück dazu gehört, und auch der Zufall hat eine Rolle gespielt. Ohne die Wiedervereinigung wäre ich nicht nach Leipzig gekommen. Und wenn der Börsenboom, dem wir die Verdoppelung unserer Anschubfinanzierung zu verdanken hatten, zwei Jahre früher zusammengebrochen wäre, hätten wir unser Geld verspielt, und man hätte mich wie einen räudigen Hund vom Hof gejagt. Aber Glück allein war es natürlich nicht. Ich denke, dass neben dem Handwerkszeug, das immer dazugehört, zwei Eigenschaften für jeden beruflichen Erfolg Voraussetzung sind. Die erste: Man muss Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können. Das klingt banal, ist es aber nicht. Im Gegenteil. Wenn ich Leute sehe, die voller Begeisterung an Fronten kämpfen, die ich auf den ersten Blick als Nebenkriegsschauplätze erkenne, dann weiß ich, dass nicht viel aus ihnen werden wird. Diese Eigenschaft macht einen nicht unbedingt sympathisch, vor allem wenn man seine Prioritäten danach ausrichtet. Oft wirkt es viel einnehmender, sich mit Liebe um Nutzloses zu kümmern. Die zweite Eigenschaft: Man sollte das haben, was man in Bayern »Schneid« nennt. Das Wort, das man schwer ins Hochdeutsche übersetzen kann, meint eine spezielle, etwas unbekümmerte Unerschrockenheit, die sich auch von allgemeiner Ablehnung und drohendem Liebesentzug nicht entmutigen lässt. Diese Bereitschaft, auch einmal etwas gegen den Trend zu riskieren, scheint mir für jede Karriere unerlässlich. Das waren jedenfalls die beiden Eigenschaften, die mir am meisten geholfen haben.
Dazu kam sicher noch mein glückliches Naturell, was die generelle Einstellung zum Leben betrifft. Ich neige dazu, den Lebenskampf spielerisch zu sehen. Also gern zu gewinnen und ungern zu verlieren und eine Niederlage, wenn sie denn einmal passiert, nicht gleich persönlich zu nehmen. Und ich neige dazu, die Dinge und die Welt phänomenologischzu sehen. Also nicht an allem und jedem zunächst zu bemängeln, dass es so ist, wie es ist, und sich zu wünschen, dass es anders wäre, sondern es erst einmal so zu nehmen, wie es ist. Ein prinzipielles »Ja zum Vorfindlichen« hat Joachim Gauck das einmal genannt und beklagt, dass diese Eigenschaft bei den Deutschen unterentwickelt sei. Bei uns neige man eher dazu, das Vorfindliche zu diskreditieren, es erst einmal als unzulänglich und reformbedürftig einzustufen. Man hat diese Bemerkung von Gauck sofort als »Herzenskälte« kritisiert. Der Mann habe offenbar keinen Blick für das Elend dieser Welt und die Notwendigkeit, es zu bekämpfen.
Vermutlich ist auch der Hang zur phänomenologischen Weltsicht keine besonders sympathische Eigenschaft. Wer unentwegt eine bessere Welt fordert und ständig den Kühen mehr Milch und den Müttern mehr Gesundheit verspricht, kommt besser an und erhält viel Gesinnungsapplaus. Und möglicherweise, das räume ich aus heutiger Sicht ein, hätte ich mich ja wirklich an einigen Stellen mehr empören und gegen das Vorfindliche engagieren können. Dass ich es nicht oder zu wenig getan habe, hängt sicher auch damit zusammen, dass mir der deutsche Hang zur Weltverbesserung, der uns anfällig macht für romantische Politikentwürfe, für ein Primat der Vision vor der Analyse, immer ein wenig contre cœur ging. Das fing ja schon bei Luther an: »Hier stehe ich, ich kann nicht
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