Gestern fängt das Leben an
Hofknicks.
«Also, jetzt sieht es folgendermaßen aus», fährt Josie fort und reibt sich die Augen. «Coke will bis nächste Wochedie fertigen Storyboards. Was bedeutet: Alle privaten Pläne fürs Wochenende sind gestrichen, solltest du welche haben. Das gilt auch für den Rest vom Team. Ich werde natürlich auch hier sein.»
Sie starrt den Antistressball an, der unter der gestrigen Zeitung auf meinem Tisch hervorlugt. Ich weiß, dass sie an ihre Kinder denkt. Wie sie ihnen erklären kann, dass Mama es leider mal wieder nicht schaffen würde, zum Fußballspiel oder zur Theaterprobe zu kommen. Josies Mann ist freier Bühnenbildner an der Oper, was bedeutet, dass er meistens keinen Job hat und zu Hause bei den Kindern ist. Und was außerdem bedeutet, dass sie keine Wahl hat: «Jemand muss schließlich die Rechnungen bezahlen, und bei uns zu Hause ist dieser Jemand nun mal ich.» Das hat sie mir einmal nach einer Happy Hour mit zwei Gläsern Chardonnay zu viel gestanden.
«Nein, nein, nein!», sage ich. «Du bleibst zu Hause. Ich habe hier alles unter Kontrolle.»
«Mach dich nicht lächerlich. Ich bin verantwortlich. Natürlich bin ich am Wochenende hier.»
Ich höre den resignierten Unterton in ihrer Stimme und würde gerne wissen, ob sie sich fragt, ob ihre Kinder sie hassen. Ich würde ihr gern sagen, dass sie es ganz gut meistern werden. Okay, mit sechzehn wird ihre Tochter Amanda nachts in die eigene Schule einbrechen, sturzbetrunken, und mit drei Tagen Unterrichtsausschluss bestraft. Aber ihre Familie ist bis jetzt – zumindest von meinem Blick in ihre Zukunft aus – noch intakt, auch wenn manchmal ein bedauernder Unterton zu hören ist, weil sie so viel kostbare Zeit mit Arbeit verbracht hat.
«Josie, ich bestehe darauf.» Ich beuge mich zu ihr. «Schaumal. Ich habe die ganze Kampagne schon genau im Kopf. Hundertprozentig. Dieser Job ist meine zweite Natur, und ich muss mich am Wochenende um niemanden kümmern.» Auf ihrem Gesicht macht sich Erleichterung breit. «Verbring die Zeit mit deinen Kindern. Wenn es Probleme gibt, rufe ich dich sofort an.»
«Ganz sicher?» Sie steht auf.
«Hundertpro», erkläre ich.
«Okay», sagt sie endlich. «Ich schlage dir einen Deal vor. Du lieferst die Kampagne für diesen Kunden, und ich mache dich dafür fit für meinen Job.»
«Äh, einverstanden.» Ich nicke.
Als sie aus meinem Büro geschlurft ist, gönne ich mir ein breites Grinsen. Josies Krone, golden und glänzend und absolut in meiner Reichweite, erscheint mir wie der erste von zahlreichen Reichtümern, die ich in meinem neuen Hier und Jetzt einheimsen werde.
***
Fünf Tage später (eine kleine Ewigkeit in meiner neuen Vergangenheit) klingelt in meinem Büro das Telefon. Wir sind gerade dabei, allerletzte Hand an die Storyboards zu legen, als das gelbe Lämpchen auf dem Telefon zu blinken anfängt und das Klingeln gellend in meinen Kopfhörer dringt. Ich bedeute den anderen, kurz Pause zu machen, und drücke auf «Sprechen».
«Jillian Westfield?»
«O Gott, Jill! Ich brauche Hilfe!», schluchzt Megan am anderen Ende. Ich werfe einen Blick auf den Kalender: Heute ist der Tag der Fehlgeburt! Verdammt, das hatte ichvollkommen vergessen. «Ich blute! Ich … Tyler ist verreist, und sonst weiß keiner was davon. Ich hab Angst! Ich blute und …» Ihre Stimme wird immer hysterischer.
«Okay, Meg, beruhige dich. Ich bin schon unterwegs. In zehn Minuten bin ich da.» Ich reiße mir das Headset vom Kopf und will schon auflegen, als ich sie aus dem Kopfhörer rufen höre.
«Du weißt doch gar nicht, wo ich bin!»
Oh, Scheiße. Natürlich weiß ich es. Wir haben diese Sache schon mal durchgemacht. Und beim ersten Mal ist es nicht gut gegangen.
«Wo bist du?», frage ich, um sie zu beschwichtigen.
«Im
Pierre
auf dem Klo! Und es ist überall Blut … Überall!» Sie versucht Luft zu holen und bekommt einen Schluckauf. «Ich war zum Mittagessen verabredet … Es ist einfach überall!»
Ich rase los, um sie zu retten, und finde sie wenig später zusammengekrümmt in einer Toilettenkabine im Erdgeschoss des Hotels. Ihre Haut ist wächsern und klebrig, ihre Hände zittern, und neben der Toilette liegt ihr Höschen, blutdurchtränkt. Ich habe von unterwegs bereits den Notarzt angerufen: Beim letzten Mal war mir das Ausmaß der Katastrophe vorher nicht klar gewesen, und bis Rettung kam, hatte sie bereits so viel Blut verloren, dass sie eine Transfusion brauchte. Vielleicht konnte ich diesmal die
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