Gestern fängt das Leben an
auf uns zukamen.
«Lass es gut sein!», sagte Jack mit Nachdruck.
Ich nahm meinen Scotch, trollte mich ins Nebenzimmer in die Bibliothek und kehrte nur zurück, um Nachschub zu holen – und zwar zweimal. Als Jack eine Stunde später zu mir kam, hatte ich bereits zwanzig Seiten von Charles Dickens’ «Große Erwartungen» gelesen.
«Wir wollen anstoßen», sagte er versöhnlich. «Komm raus. Mutter möchte uns alle bei sich haben.»
«Sie wird mich kaum vermissen», gab ich zurück und blätterte schmollend um.
«Komm jetzt raus, Jillian. Das ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um diese Geschichte aufzuwärmen.»
«Und wann ist die richtige Zeit dafür, Jack? Jedes Mal, wenn deine Mutter mit dieser verdammten Nummer anfängt, ignorierst du es einfach oder tust so, als stünde ihr Verhalten nicht zur Debatte!» Ich schlug das Buch zu und knallte es zurück ins Regal. Ich versuchte, mit Nachdruck aufzustehen, aber leider hatte ich ziemlich weiche Knie. Dafür reichten drei Gläser Scotch locker.
«Du musst dich einfach damit abfinden.» Seine Stimme war inzwischen genauso laut wie meine. «So ist sie nun mal. Sie wird sich nicht mehr ändern! Wann kapierst du das endlich?»
«Und wann kapierst du, dass
du
dich vielleicht ändern musst, wenn sie es nicht tut?» Ich war so wütend, dass ich nur noch verschwommen sah (oder lag das vielleicht auch an den drei Gläsern Scotch?).
«Ach, jetzt geht es also um mich?»
«Es ging schon immer um dich!»
«Und was ist mit dir? Mit dir hat das Ganze wohl gar nichts zu tun?»
«Sie ist
deine
verdammte Mutter, Jack!», schrie ich. «Und ich bin deine verdammte Freundin. Wieso kannst du ihr nicht einfach sagen, dass ich dir wichtig bin? Wieso kannst du nicht einfach sagen: ‹Akzeptiere sie, Mutter!› Ist das so unglaublich schwierig?»
«Und wieso kannst du nicht einfach sagen: ‹Jack liebt sie›, und es dabei belassen?» Seine Stimme dröhnte so laut, dass ich glaubte, die Bücher in den Regalen müssten vibrieren.
Ich starrte ihn an – und fühlte mich urplötzlich absolut nüchtern. Ich war viel zu wütend, um zu sprechen, bis mir irgendwann die schauerliche Stille im Raum auffiel. Es war die Art Stille, die eintritt, wenn andere Leute peinlich berührt sind, weil sie etwas gehört haben, was sie nicht hätten hören sollen, aber noch viel zu perplex sind, um schnell weiterzureden, um zu überspielen, dass sie gelauscht haben. Jack merkte es auch, und seine Augen wurden weit vor Schreck.
«Scheiße», murmelte er. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand zur Tür raus.
Wenig später kam er zurück.
«Wir sollten gehen», sagte er.
«Meinetwegen.» Ich warf die Hände in die Luft.
«Sie hat jedes Wort gehört», fügte er tonlos hinzu, als wir die Blicke der versammelten Geburtstagsgesellschaft im Rücken spürten. «Was für ein beschissener Abend, ein absolutes Debakel!»
Deshalb war mir an diesem Samstagmorgen völlig klar,dass Jack wissen wollte, ob ich pünktlich zur Geburtstagsparty seiner Nichte kam. Er war mehr als nur besorgt, er war vollkommen nervös wegen der bevorstehenden Begegnung zwischen Vivian und mir. Und ich konnte ihm schließlich auch keinen Vorwurf daraus machen. Aber diesmal hatte ich mich entschlossen, die Taktik zu ändern.
In meinem früheren Leben hatte ich verzweifelt darum gekämpft, bei Jack endlich die Nabelschnur zu kappen; diesmal würde ich meinen Unmut und mein Ego einfach runterschlucken. Es war schließlich ein vergleichsweise niedriger Preis für einen zweiten Versuch, meine Zukunft zu gestalten.
Und jetzt am Bahnhof, in dem entscheidenden Augenblick, in dem ich wirklich bereit bin, mich zu beweisen, komme ich zu spät! Ein echtes Versehen – die Arbeit an der Coke-Kampagne hat länger gedauert als erwartet – führt zu einer ausgewachsenen Katastrophe.
Endlich zeigt die Abfahrtstafel an, dass der nächste Zug nach Rye (zur Hölle) bereitsteht. Mühsam schleppe ich meine müden Beine Richtung Bahnsteig und mache noch kurz am Zeitungskiosk halt, um mir die neueste Ausgabe vom
Esquire
zu holen, wo Jack seit neuestem als leitender Redakteur arbeitet.
«Jack wird einmal ein berühmter Schriftstellers sein», erzählte Vivian mir bei unserer ersten Begegnung. «Das haben alle seine Highschool-Lehrer und College-Professoren bestätigt.»
Ich nickte mit dem Enthusiasmus, zu dem nur eine frischverliebte, neue Freundin fähig ist. «Ich habe seine Kurzgeschichten gelesen. Sie sind wirklich
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