Gestern fängt das Leben an
Härteste ist, das du je durchgemacht hast. Dass es nicht nur aus rosa Kinderzimmer und rosigen Bäckchen besteht. Wieso hat mich niemand gewarnt?
Aber wenn Katie sich dann endlich beruhigt hatte und ich ihr zärtlich den Rücken streichelte, während sie in ihrer Wiege lag, spürte ich es ganz deutlich: die Einsamkeit, die mich so oft belastete, war weg. Dann schob ich alles Andere beiseite und stürzte mich in das Bild der perfekten Mutter.
Und jetzt weiß ein Teil von mir, dass ich einfach so bin, ganz egal, ob ein Therapeut meine Mutter für die Gefühle von Entfremdung verantwortlich machen würde oder nicht. Natürlich hatten die Verletzungen, die sie mir zufügte, auch Folgen, aber sie waren nicht die Ursache. Ich weiß nicht, wo es endet. Wie es endet.
Es endet hier!,
sage ich mir.
Bei deinem zweiten Versuch, alles richtig zu machen im Leben. Tu endlich etwas dafür, nutze dein Glück und deine zweite Chance und das Wissen, dass du dich und Jack erneuern musst.
Ich starre weiter hinaus und wünsche mir, dass es wirklich so ist. Und tatsächlich erscheint ein Hoffnungsschimmer am Horizont: Der Regen hört auf, und der Himmel ändert seine Farbe von schwerem Bleigrau zu Kalkweiß. Angespornt von der Wendung springe ich hektisch in meine Turnschuhe, schnappe meinen Discman und geheLaufen. Es ist das erste Mal, stelle ich überrascht fest, dass ich an diesem Wochenende die Wohnung verlasse.
Gemächlich trabe ich durch die Straßen, ohne festes Ziel. Normalerweise steuere ich immer direkt den Laufpfad am Fluss an, aber heute wende ich mich scheinbar grundlos nach Osten, laufe durch nasse Straßen und nicke einer einsamen Spaziergängerin zu, die die kurze Regenpause ebenfalls nutzt, um ihren vier Wänden zu entkommen und etwas frische Luft zu schnappen. Meine Beine sehnen sich nach Bewegung, nach Adrenalin und pochendem Blut in den Venen wie bei einem jungen Fohlen, das aus seinem Stall ausbrechen will. Nichts kann mich aus dem Rhythmus bringen.
Ich laufe durchs East Village und immer weiter, bis mir klarwird, worauf ich zusteuere, wohin mein Körper mich von Anfang an gelenkt hat, auch wenn mein Verstand es stets geleugnet hat.
Dann bleibe ich abrupt stehen. Auf der Markise direkt gegenüber steht 120 FIFTH AVENUE. Ich stehe gegenüber von
ihrem
Gebäude.
Es ist ein hochaufragender, weißer Kalksteinbau, der schon von außen Wohlstand signalisiert. In so einem Haus wohnt man nicht ohne üppige Steuererstattungen oder einem hochdotierten Job an der Wall Street. Vor dem Eingang nimmt ein livrierter Portier gerade Haltung an und grüßt ehrerbietig die blonde Frau, die durch die Glastür ins Freie tritt. Sie ist eine elegante Erscheinung in olivfarbenem Trenchcoat und kniehohen Stiefeln. Ich sehe ihr nach, bis sie um die nächste Ecke verschwindet und frage mich, ob das vielleicht meine Mutter war. Eigentlich weiß ich, dass meine Mutter dunkelhaarig ist. Aber gehört ihre Haarfarbevielleicht auch zu den vielen Dingen, die sie an sich verändert hat?
Ein neuer Song tönt durch meine Kopfhörer, und ich beobachte weiter den Türsteher, bis mich plötzlich lauter Donner fast von den Füßen reißt vor Schreck. Ohne Vorwarnung öffnet der Himmel seine Schleusen aufs Neue, und binnen weniger Sekunden bin ich bis auf die Knochen nass.
«Verdammter Mist!», fluche ich leise und lege einen Sprint ein. Drei Blocks weiter entdecke ich eine Filiale von Starbucks und rette mich hinein. Meine Füße schwimmen in den Schuhen, und ich bleibe mit den klitschnassen Klamotten lieber im Eingangsbereich stehen. Außer mir haben sich noch andere in den Laden geflüchtet. Es ist ziemlich voll und stickig hier.
Ich schüttle mich wie ein Hund nach dem Sprung in den Teich, als hinter mir jemand plötzlich meinen Namen ruft.
Natürlich,
denke ich und drehe mich um. Direkt vor mir steht Henry. Er ist mir fast so beharrlich auf den Fersen wie mein Schatten aus Einsamkeit.
***
«Wir müssen aufhören, uns ständig so zu treffen», sagt er und grinst.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, doch ich fürchte, so wie ich aussehe, mit verlaufener Wimperntusche und klitschnassen Haaren, wirke ich wie eine Figur aus einem schlechten Gruselfilm.
«Soll ich dir was zu trinken holen?», fragt er, legt seineZeitung beiseite und reicht mir ein paar Papierservietten, als wären die zu irgendetwas nütze.
Ich tupfe ein bisschen an mir herum, aber es ist völlig zwecklos. Wenn man aus der Dusche kommt, trocknet man sich ja auch nicht mit
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