Gestern fängt das Leben an
Erinnerung an die Verletzungen einem doch für immer ins Hirn gebrannt. Man erzählt allen, es gehe einem gut, und man ist sogar selbst davon überzeugt, bis einem eines Tages auf der Straße eine Frau begegnet, die einen flüchtig an die eigene Mutter erinnert. Und man gerät unversehens in Angst und Panik.
Google zeigt mir keine Treffer an auf die Frage nach ihrem Namen. Erleichtert lehne ich mich zurück und greife nach der Tasse heiße Schokolade. Erst dabei fällt mir auf, dass meine Hände zittern.
Wie kann jemand heutzutage ein derart unsichtbares Leben führen, dass nicht mal Google ihn findet
?
, frage ich mich.
«Bist du noch da?» Josie streckt den Kopf zur Tür rein, betritt mein Büro und lässt sich in den Besucherstuhl plumpsen. «Ich dachte, ich wäre die Letzte.»
«Einer muss ja die Spätschicht machen», sage ich und löse nur mühsam die Augen vom Monitor.
«Du sagst es», antwortet Josie und streift einen Schuh ab, um sich den Fuß zu massieren. «Wo wir gerade dabei sind, ich habe eben mit den Jungs von Coke gesprochen –»
«Was ist mit Bart?», falle ich ihr ins Wort.
«Ach, Himmel, nichts.» Sie winkt ab und wird rot. «Da hatte mir der Alkohol nur die Zunge gelöst.» Sie schüttelt den Kopf, und ihre Stimme driftet ab. «Oder so was.»
«Oder so was»
, wiederhole ich.
«Ist ja auch egal, jedenfalls gibt es gute Neuigkeiten: Coke hat entschieden, uns nicht nur für diese eine Kampagne zuengagieren, sondern für die gesamte Werbung: Printmedien, Radio, TV.»
«Wow!», rufe ich. «Das ist ja großartig. Gratuliere, Jo.»
«Gratuliere nicht mir, das ist auf deinem Mist gewachsen. Und deshalb …» Sie legt eine dramatische Pause ein. «Deshalb darfst du dich ab kommenden Montag als Führungskraft betrachten.»
«Wirklich?» Ich bin fassungslos. Das ist in meinem alten Leben definitiv nicht passiert! Damals gab es wohlmeinendes Schulterklopfen und ein lobendes «Gut gemacht!». Aber befördert wurde ich erst zwei Jahre später. «Vielen Dank, Jo!» Ich schaukle mit Nachdruck nach hinten, und der Stuhl quietscht vernehmlich.
«Mit Freuden», sagt sie und schlüpft mit ihrem Fuß zurück in den Schuh. «Du hast es verdient. Und jetzt schnapp dir deinen süßen Freund und geh feiern!»
«Ach, der ist übers Wochenende bei seinen Eltern. Seine Mutter hat sich die Hüfte gebrochen, und er möchte dringend auf Abruf zur Verfügung stehen und sich herumkommandieren lassen.» Ich spüre die Freude über die Beförderung aus meinem Körper weichen wie die Luft aus einem kaputten Reifen. «Du solltest lieber selbst sehen, dass du nach Hause kommst. Kümmere dich um deine Kinder.»
Josie zuckt die Achseln. «Sie besuchen Art in San José. Ein letztes bisschen Sommer tanken, ehe nächste Woche die Schule wieder losgeht.»
Peinlich berührt sehen wir beide zu Boden. Um Josies Ehe mit Art steht es nicht zum Besten. Offensichtlich hat derzeit also keine von uns jemanden, der sie so dringend braucht, als dass wir mit Begeisterung das stille Büro im Stich lassen würden.
«Also gut», sagt sie schließlich, steht auf und wendet sich zum Gehen. «Aber arbeite nicht das ganze Wochenende durch, versprochen?»
«Versprochen.» Sobald sie zur Tür hinaus ist, erstirbt mein Lächeln. Ich greife zum Telefonhörer, um Jack von meiner Beförderung zu erzählen, aber dann überlege ich es mir anders. Wenn Jack bei seiner Mutter ist, habe ich immer das Gefühl, meine Anrufe würden stören und er würde nur pflichtschuldig mit mir sprechen. Meine Bedürfnisse haben gerade schließlich nicht oberste Priorität.
Ich nehme den Brief meiner Mutter hervor und lese ihn noch einmal durch, als hätte ich nicht schon längst jedes einzelne Wort auf versteckte Hinweise zu ihrem Verbleiben abgeklopft. Mein Blick bleibt auf ihrer Telefonnummer hängen. Nervös kaue ich auf der Unterlippe und tippe die Zahlen in das Suchfeld bei Google ein. Ein einziger Eintrag erscheint:
Ilene Porter. 120 Fifth Avenue. New York, NY 10011
Ich starre den Bildschirm an, bis die Buchstaben vor meinen Augen zu tanzen anfangen. Porter. 120. Ilene. 10011. New York. Fifth Avenue …
Ich versuche, es zu begreifen, aber es fällt mir schwer. Ilene ist doch ein ungewöhnlicher Vorname. Aber Porter ist weder ihr Mädchenname, noch der angeheiratete Name. Und dann wird es mir so schlagartig klar, dass ich nicht fassen kann, wieso ich nicht gleich darauf gekommen bin: Meine Mutter hat noch einmal geheiratet. Sie hat
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