Gestern fängt das Leben an
aufwachten und tiefe Narben erblickten und ich in eine Bar floh, wo ich Henry kennenlernte.
«Hör zu», lenke ich ein, «es tut mir leid. Es war nicht so gemeint. Ich wollte damit lediglich sagen, dass du das Schreiben nicht als deine Berufung sehen musst, nur weil deine Mutter in dir den nächsten großen Schriftsteller sieht. Du solltest selbst erkennen, wofür dein Herz schlägt.»
«Willst du damit vielleicht sagen, ich schreibe nur meiner Mutter zuliebe?» Jack lässt sich auf die Fensterbank fallen und bleibt regungslos sitzen. Hinter ihm verschwindet die Sonne hinter den Häusern. In meinem Kopf hallen die Echos vergangener Streite wider; wie schnell man etwas falsch versteht und verdreht und davongleiten lässt, wie einen Aal vom Haken.
«Nein», erkläre ich schnell, ängstlich darauf bedacht, die Auseinandersetzung hinter uns zu bringen. «Ich sage lediglich, dass du selbst für dein Leben verantwortlich bist, das ist alles. Nicht sie, und nicht ich. Du!»
Er zieht einen Schmollmund. «Als wüsste ich das nicht.»
«Gut», antworte ich, küsse ihn flüchtig, ohne ihm in die Augen zu sehen, und verschwinde zur Tür hinaus.
Bei der anschließenden Joggingtour renne ich und renne und renne, als wäre Jack der Einzige, der sich mit Eigenverantwortung und seiner eigenen Rolle im Leben auseinandersetzen muss.
***
Vier Tage später: Es ist ein regnerischer Freitagnachmittag, ein Tag mit heftigem Temperatursturz, der uns alle im Büro in leichten Tops und Sommerkleidchen überrascht hat. Den ganzen Tag über reiben wir uns fröstelnd die Arme und wärmen uns die Hände an Tassen mit heißem Kakao, den irgendjemand in der Agenturküche ausgegraben hat. Die Wettervorhersage warnt vor Sturzbächen und Überflutung der Straßen, ein willkommener Vorwand, um früher Schluss zu machen. Um halb fünf ist die Agentur so gut wie ausgestorben. Die Wände werfen bleischwer das Grau der Wolken zurück, die ungewöhnlich tief vor dem Fenster hängen.
Der Brief meiner Mutter liegt begraben unter Notizzetteln und gelben Klebeblöcken und Firmenbriefpapier in meiner Schreibtischschublade und schreit jeden Tag zu mir herauf, als hätte er einen Alarm eingebaut, den nur ich hören kann. Doch heute gebe ich nach.
Zwischen Büroklammern, ausgetrockneten Textmarkern und der uralten Einladung zur Coke-Party zerre ich den Brief ans Licht.
Ist es tatsächlich möglich, dass meine Mutter die ganze Zeit in der Nähe gewesen ist?,
denke ich und starre die Handschrift an, die mir so vertraut ist wie meine eigene. Genau dieselbe Frage hatte ich meinem Vater auch gestellt,als ich ihn anrief, um ihm von dem Brief zu erzählen, aber auch er hatte keine Antwort darauf gehabt. Er war genauso überrascht wie ich, dass meine Mutter offensichtlich nicht bis ans andere Ende der Welt geflohen war. Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, sie würde in Paris leben, hätte in Sta. Lucia einen Laden am Strand eröffnet oder ein Restaurant in Madrid. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass sie so nah sein könnte. Wenn man vor seinem Leben fliehen wollte, würde man doch, so weit es ginge, fliehen, oder nicht? Bis an einen Ort, von dem aus es keinen Blick zurück mehr gäbe.
Zögernd setze ich mich an den Computer und tippe ihren Namen ins Suchfeld bei Google ein. Mit klopfendem Herzen drücke ich auf «Enter», in der Gewissheit, dass mir das Suchergebnis neue Türen öffnen wird, Türen, die ich seit fast zwanzig Jahren bewusst verschlossen gehalten habe, Türen, mit deren geschlossenem Zustand ich in meinem alten Leben absolut zufrieden gewesen war. Nein, mehr als zufrieden: Ich war absolut im Reinen damit gewesen, sie für alle Ewigkeit geschlossen zu halten.
Ich erinnere mich noch, wie ich an meinem dritten Rendezvous mit Henry bei einem Teller Spaghetti Bolognese in einem winzigen italienischen Restaurant in Little Italy saß, das mit bunten Weihnachtslichtern dekoriert war. Es war der Abend, an dem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben. Ich erinnere mich daran, wie ich mit ihm über das plötzliche Verschwinden meiner Mutter sprach. Er versuchte, meine Wut zu besänftigen und meine Verbitterung zu mildern, ohne mich dafür zu verurteilen. Und auf einmal fühlte ich mich erleichtert, als könnten meine Wunden jetzt endlich heilen. Aber Wunden wie dieseheilen nicht einfach so, und sie verflüchtigen sich auch nicht über Nacht. Denn selbst wenn sie verheilt sind, selbst wenn die Narben kaum noch zu erkennen sind, so ist die
Weitere Kostenlose Bücher