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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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Sitzbank.
    Ich habe nicht groß nachgedacht, ich habe sie nur angesehen. Ich weiß nicht warum, es war ein Impuls, ich ging einfach auf Marta zu und hockte mich vor sie hin [Marta, so hart es klingen mag, vielleicht wollte ich nur einfach nicht zurück an meinen Schreibtisch, wenigstens nicht alleine]. Ich habe sie zart angestupst, sie vorsichtig geweckt und ihr aufgeholfen. Marta stand, sie wankte, wischte sich die Spucke aus den Mundwinkeln, guckte mich an wie ein kleines Kind, das man mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte. Ihre riesigen dunklen Pupillen zuckten wirr umher. Ich kann nicht sagen warum, aber ich war auf Anhieb ... aufgeregt? Heute kommt es mir vor, als wäre ich schon in diesem allerersten Moment in sie hineingeklettert, als wäre ich wie über eine winzige, schmale Wendeltreppe in ihren rauchigen, kastanienbraunen Blick hinabgestiegen. Später hat Marta immer steif und fest behauptet, sie würde sich haargenau an diesen Moment erinnern, aber das habe ich ihr nie abgenommen. Sie konnte sich garantiert an überhaupt gar nichts erinnern, sie war benommen und in irgendwelchen Traumresten verheddert. Sie stand im Neonlicht und sah aus, als wolle sie sich jeden Augenblick wieder hinlegen. Besser ich nahm sie mit, als irgendwer anderes.
    Die Bahn ruckelte und kam zum Stehen, Marta schwankte. Ich nahm ihre Hand, damit sie nicht fiel, und wir stiegen aus. Ich zog sie in die kühle, graurote Dämmerung und Marta stolperte wortlos neben mir her. Sie ist einfach mitgekommen, als hätte sie darauf gewartet, dass jemand sie mit sich nimmt, als wäre das immer so.
    Marta saß in meiner Küche und sah sich um, drehte den Kopf hin und her wie ein Küken. Sie trank den Kaffee schwarz, wie ich ihn ihr hinstellte, rauchte, ohne zu fragen, zog sich die Beine vor den Bauch, aschte in die Blumentöpfe auf der Fensterbank und lächelte mich abwesend und zufrieden an. Sie sah kaputt aus, überall zeichneten sich Knochen unter ihrer hellen Haut ab. Darüber lag eine hauchdünne Schicht bunter Schatten, Druckstellen, die erst tiefblau oder violett schimmerten und über die Tage von grün über gelb wieder in Martas Blässe aufgingen. Sie hatte Ausschlag in den Armbeugen und den Mundwinkeln. Sie sah krank aus mit ihren trockenen, rissigen Lippen. Ich gab ihr Creme, und während sie ihre Lippen damit einrieb, schlief sie ein [Wie kann man so tief und fest und schnarchend auf einer vollkommen fremden Couch in einer vollkommen fremden Wohnung schlafen, Marta, wie geht das?]. Ich ging in mein Zimmer, setzte mich an den Computer, starrte auf die Zwischenüberschrift: Selbstbestimmung und Qualitätsstandards in der gesetzlichen Betreuung von Menschen mit einer geistigen Behinderung . Ich sollte schreiben, ich sollte denken. Stattdessen kochte ich alle halbe Stunde einen neuen Tee und während ich in der Küche auf das Wasser wartete, sah ich mir Marta an, kam ihr jedes Mal etwas näher, setzte mich neben sie und betrachtete ihr kleines, dünnes Gesicht. Ihre schmale Nase, die langen, dunklen Wimpern, den rauen Mundwinkel, aus dem ein winziger Speichelfaden auf mein Sofa lief. Sie hatte die weichgecremten Lippen etwas vorgeschoben, leicht geöffnet, zu einem wunderbar zärtlichen Kreis geöffnet. Ihr Mund roch nach Rauch und Erbrochenem. Ganz leise konnte ich ihren Atem hören.
     
    Irgendwann stand Marta hinter mir in meinem Arbeitszimmer, und sie pfiff tonlos, im Grunde pustete sie bloß, aber es sah aus, als wolle sie eigentlich pfeifen.
    »Wer bist du?«, wollte sie wissen.
    »Paul«, sagte ich, »und du?«
    »Marta«, sagte Marta, »du hast lustige Ohren, kann ich die mal anfassen?«
    Sie tastete vorsichtig an meinen Ohren herum, streichelte einmal rundherum, steckte dann den Finger unter die äußerste Wölbung, fuhr ein kleines Stückchen darunter entlang, nahm mein Ohrläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger und drückte sanft.
    »Wohnst du hier?«, fragte Marta.
    »Ja.«
    »Kennen wir uns?«
    »Nee, also: Ein paar Stunden. Du ... du hast in der Bahn ... rumgelegen. Und ich hab dich mitgenommen.«
    »Hast mich einfach mitgenommen?«
    Ich nickte, Marta sagte: »Find ich gut. So was mag ich.«
    »So was magst du?«
    »Ja. Was machst du da?«
    »Schreiben. Ich muss meine Abschlussarbeit abgeben. In drei Wochen ist Abgabe.«
    »Ach was!«, sagte Marta, setzte sich neben mich auf den Boden und gähnte so mächtig, dass ihr ganzer Körper erzitterte. Sie sah aus wie ein zwölfjähriges Mädchen und gleichzeitig so ganz

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